Wundt und Kollegen – eine Fotosession anno 1915

Klemm sucht Halt an der Staffelei. Die Bildschärfe liegt vorn auf den Tischen, die Personen sind unscharf.

In Vorbereitung der Ausstellung „Sinnliche und übersinnliche Welt.“ Wilhelm Wundt und die Psychologie in Leipzig (4. Juli–19. Oktober 2025) fiel unser Augenmerk auch auf eine Kiste mit Fotomaterialien. Beschriftet war sie mit „14 Fotoplatten / Wundt- Bildarchiv / Wundt-Versuche (11x) [39]; Wundt-Porträts (3x) 16)“ und enthielt einen entwickelten Kleinbildfilm mit Privataufnahmen der Familie Wundt und verschieden große Glasplatten mit Aufnahmen aus dem universitären Umfeld Wundts.

  • Foto des Kartons
    Karton der Firma Wellington & Ward, Niederlassung Berlin

Darunter waren auch großformatige (18 x 24 cm) Platten mit Portraits von Wilhelm Wundt und eine Serie von Gruppenportraits, die wohl um 1912–15 im Institut angefertigt wurden.

Was ist das Besondere an dieser Serie? Sie erlaubt einen kleinen Einblick in die Entstehungsgeschichte dieser Gruppenportraits von Wundt und Kollegen.

Üblicherweise wurden und werden von Fotografen nur ausgewählte Motive an die Auftraggeber weitergegeben, die restlichen Aufnahmen landen im Archiv des Fotografen oder werden vernichtet. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Was kann man daraus schließen? Vermutlich gehörten Auftraggeber und ausführender Fotograf gar zum Institut selbst. Aber dazu später mehr.

  • Gruppenbild um Wilhelm Wundt
    Klemm sucht Halt an der Staffelei. Die Bildschärfe liegt vorn auf den Tischen, die Personen sind unscharf.

Den Karton, in dem die Platten aufbewahrt werden, gibt es höchstens erst seit 1927. Das ist der früheste zu ermittelnde Zeitpunkt für die Existenz der Niederlassung der britischen Foto-Firma Wellington & Ward in Berlin, von der die Original-Beschriftung des Kartons stammt. 

Auch die Hüllen, die zum Schutz der einzelnen Platten verwendet wurden, stammen nicht aus der Zeit der Aufnahmen. Sie tragen den Aufdruck

„Dürr’sche Buchhandlung
Hegel & Schade
Dürr & Weber
Verlagsbuchhandlungen
Leipzig C1
Querstraße 14“

Das hier verwendete Postleitzahlensystem für die Stadt Leipzig wurde erst am 1. Mai 1926 eingeführt.

Inwieweit die Beschriftungen der Platten aus älteren Verpackungen übernommen wurde, lässt sich schwer nachvollziehen. Es handelt sich auf jeden Fall jedoch aus Beschriftungen unterschiedlicher Zeiträume. Man kann unterscheiden zwischen Nummerierungen (teilweise gestrichen), Motivbeschreibungen und rechtlichen Hinweisen.

  • Gruppenbild mit Wilhelm Wundt
    Klemm sucht wieder Halt.

Während die Nummerierungen keinen unmittelbar vorhandenen Bezug haben, tragen die Motivbeschreibungen z. T. eindeutig Zeitkolorit. Da ist z. B. von „Kriegsberatung“ zu lesen, eine Bezeichnung, die heute angesichts der friedlich um diverse Objekte herum gruppierten Herren ziemlich absurd erscheint.

Offensichtlich ging es bei den Aufnahmen darum, das Team rund um Wundt für verschiedene Publikationen gemeinsam abzubilden.

Der Aufwand dafür wurde geringgehalten. Die Ausstattung wirkt improvisiert: Vor den Schränken wurde aus einem großen Messgerät, einer Staffelei mit verhängtem Bild und einer Lehrtafel eine Szenerie gestaltet, in der sich die Gruppe um einige Tische positioniert. Auf den Tischen finden sich kleinere Geräte, die für die eigentliche Versuchsanordnung benutzt wurden, für die Fotosession jedoch „unverkabelt“ der reinen Dekoration dienen.

Man verzichtete auf künstliche Beleuchtung, obwohl diese bereits seit den 1880er Jahren durchaus bekannt war. Als einzige Lichtquelle dienten die großen Fenster der Räume. 

  • Gruppenporträt mit Wilhelm Wundt
    Hier ist der Lichteinfall durch zwei Fenster von rechts sehr deutlich sichtbar.

Entsprechend ungleichmäßig ist die Ausleuchtung, eine ansonsten übliche Aufhellung von der Schattenseite fand nicht statt. Das deutet darauf hin, dass der Fotograf kein routinierter Portraitspezialist war, der sich jahrelang mit der Praxis der Portraitfotografie beschäftigt hat. Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass ein Mitarbeiter des Instituts, der mit der technischen Bedienung der Kamera einigermaßen vertraut war, für die Aufnahmen herangezogen wurde.

Das zeigt sich letztlich auch in einigen technischen Mängeln der Aufnahmen selbst: da sind Gesichter verschattet, die langen Belichtungszeiten führen zu Bewegungsunschärfen und auch die Positionierung und Gestik der Beteiligten wirkt eher ausprobiert und improvisiert, als professionell geleitet. 

Durch die nötige große Blendenöffnung ergibt sich eine geringe Schärfentiefe, die zudem oft vorn auf der Tischkante statt auf den Gesichtern liegt.

Dennoch wurden einige dieser Aufnahmen in den folgenden Jahrzehnten (und noch bis heute) erfolgreich publiziert. Sie sind trotz aller technischen Einschränkungen ein wichtiges Zeitzeugnis und gewähren einen sehr guten Einblick in die Arbeitsweise für „PR“ am damaligen Institut.

  • Gruppenbild mit Wilhelm Wundt
    Vermutlich am Anfang der Session entstanden, wird hier die Suche nach einer stimmigen Positionierung des Teams deutlich.

Alle Digitalisate: Olaf Mokansky

Olaf Mokansky

Olaf Mokansky ist Leiter der Digitalisierung an der Universitätsbibliothek Leipzig.

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