Vom Großen Buchgeschrey in Annaberg

Es muss eine unglaubliche Aufbruchsstimmung gewesen sein: im Erzgebirge, am Ende des 15. Jahrhunderts, kurz nachdem zum zweiten Mal in dieser unwirtlichen finsteren Region Silbervorkommen ausgemacht worden waren; nun in vorher nicht gekanntem Ausmaß. Bergleute aus anderen Montangegenden, dem „Großen Berggeschrey“ folgend, siedelten sich an. Familien wurden gegründet, Gotteshäuser gebaut – auch diese in vorher hier so nicht gekannter Dimension: St. Wolfgang in Schneeberg, St. Annen in Annaberg. Die Stadt am Schreckenberg konnte einen berühmten Franken, den Rechenmeister Adam Ries, an sich binden. Auf dem steil ansteigenden Marktplatz ist er einer einheimischen jungen Unternehmerin begegnet, Barbara Uthmann, die Klöppelspitze verlegte und bei der Hunderte Frauen am Klöppelsack in Lohn und Brot standen.

Die Kirche St. Annen in Annaberg/Erzgebirge thront über der Stadt. Foto © YvoBentele, CC BY-SA 4.0

In der über allem thronenden St. Annenkirche vermehrten sich unterdessen die Buchbestände: aus säkularisiertem Klosterbesitz der Franziskaner, aus Schenkungen eines flüchtigen Hussiten, einer Witwe, eines Bürgermeisters. Aufbau einer reformatorischen Kirchenbibliothek! Um das Jahr 1560 ging es so richtig los damit. Doch wozu eine solch bedeutende und ständig wachsende Bibliothek an einer Pfarrkirche? Die Pfarrer von St. Annen und die Lehrer der städtischen Lateinschule sollten sich bilden und fortbilden, sollten zu theologischen Fragen sprach- und streitfähig sein. Und anschaulich predigen und unterrichtet lehren können. Die Bibliothek überstand, gehütet wie ein Augapfel, gar den Brand, der Anfang des 17. Jahrhunderts die Stadt verheerte. So überdauerte sie, mal in der Schule aufgestellt, mal in der Annenkirche untergebracht, die Zeiten. 

Und erreichte als stille Schöne, Kluge „in situ“, also noch immer vor Ort, das 21. Jahrhundert. Da waren an Bibliotheken in öffentlicher Trägerschaft längst Erschließungs- und Digitalisierungsprojekte über die historischen Bestände (die mittelalterlichen Handschriften, Inkunabeln, Drucke des 16., 17., 18. Jahrhunderts) gegangen. Da waren mithilfe öffentlicher Mittel dort längst Holzdeckelbände restauriert, historische Papierlagen angefasert und Buntpapierbände in säurefreien Schutzboxen verwahrt worden. Die Schöne, Kluge in Annaberg ahnte nichts von diesen Möglichkeiten.

Ein gemeinsamer Einsatz für die Kirchenbibliothek 

In einem 2021–2024 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt wurden und werden 3.946 Drucke des 15.–19. Jahrhunderts der Kirchenbibliothek St. Annen katalogisiert und bibliografisch nachgewiesen (im Gesamtkatalog der Wiegendrucke, im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) und des 17. Jahrhunderts (VD 17) sowie im Verbundkatalog K10plus). Im Handschriftenportal wurden 150 Fragmente aus mittelalterlichen Handschriften erschlossen. Parallel dazu erfolgte die Digitalisierung von 400 Drucken und 150 Handschriftenfragmenten der Annaberger Kirchenbibliothek. In zwei von der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) geförderten Projekten – einer Bundeseinrichtung, die Restaurierungsprojekte fördert – werden insgesamt 90 Bände restauriert. 

Der derangierte Einband einer Inkunabel brauchte nicht zuletzt deswegen eine Restaurierung, um dem handgemalten Initialbuchschmuck Schutz zu bieten. (Links der kaputte Einband; mittig die Initialseite (Ausschnitt) geborgen in der Mitte; rechts der wiederhergestellte Einband) Fotos © paperminz

Die Antragstellung erfolgte in allen genannten Fällen durch die Universitätsbibliothek Leipzig, die ihre wissenschaftliche Kompetenz und ihren Erfahrungsreichtum in der Bestandserhaltung in den Dienst der Kirchgemeinde St. Annen in Annaberg stellte. Die Gemeinde ihrerseits muss sich als Institution innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens (EVLKS) auf ihre Kernaufgaben in Seelsorge und Gemeindepraxis konzentrieren. Was ihre historisch so schwergewichtige Bibliothek angeht, ist sie durch die Kooperation mit der UB Leipzig entlastet.

Vom KEK-Modellprojekt ins BKM-Sonderprogramm

In einem KEK-Modellprojekt von 2022–23 wurden 21 Bände restauriert. Die Hälfte davon hatte sich konservatorisch in einem so beklagenswerten Zustand befunden, dass sie als sogenannter Havariebestand beiseite gestellt worden war. Darunter eine Schedelsche Weltchronik und zwei Sammelbände mit Hunderten von frühneuzeitlichen kleinen Drucken, die sich oftmals direkt auf Annaberg beziehen und bisher als Drucke nicht nachgewiesen waren, also offensichtlich unikal überliefert sind: Einblattdrucke, Predigten mit personenbezogenen Angaben, Verordnungen. 

Die Weltchronik des Nürnberger Historikers Hartmann Schedel von 1493 illustriert die Welt in der damaligen Vorstellung mit von Hand kolorierten Holzschnitten. Foto © Zentrum für Bucherhaltung

Im BKM-Sonderprogramm, einer besonderen Förderlinie der KEK, werden die Erfahrungen aus dem KEK-Modellprojekt auf die Menge übertragen. In den drei Projektjahren 2023–2025 sollen insgesamt 69 Bände restauriert werden. Alle Arten der Restaurierungskunst am historischen Buch kommen hier zur Anwendung: stark verschmutzte Lagen werden trockengereinigt, zerfetzte oder von Buchlarven durchlöcherte Buchseiten werden ggf. nassbehandelt oder mit Japanpapier ergänzt, Risse im Papier geschlossen; gerissene Bünde werden neu geheftet, gebrochene Holzdeckel neu angesetzt, desolate Pergamentbände restauriert. Alles unter größtmöglicher Verwendung der historischen Buchsubstanz. Wenn einem Buchblock der Einband gänzlich abhanden gekommen ist, wird ein reversibler Konservierungseinband gefertigt.

Die alles in allem 90 restaurierten Bände werden nach Abschluss beider KEK-Projekte in Annaberg an den Schutzboxen, in denen sie dann im Regal stehen, zu erkennen sein. Die Menschen in der Kirch- wie in der Stadtgemeinde in Annaberg sind sich dessen bewusst, dass sie mit der Kirchenbibliothek Annaberg einen unglaublichen Schatz ihr Eigen nennen. Da wäre es allemal am Platze, ein „Großes Buchgeschrey“ ertönen zu lassen. Und es weiterzusagen.

Der Beitrag wurde zuerst im Oktober 2024 auf dem Portal der KEK (Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts) veröffentlicht.

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