Im Rahmen seines Bibliotheksreferendariats an der Staatsbibliothek zu Berlin (2022–2024) war Dr. Andreas Janke im August und September 2024 für vier Wochen zu einem Praktikumsdurchgang am Handschriftenzentrum der UBL. In diese Zeit fiel auch der diesjährige Handschriftenkurs der UBL. Hier hält Herr Janke seine Eindrücke zum Kurs fest, die er auch auf dem Instagram-Kanal der UBL teilte.
Eine Entdeckungsreise zwischen karolingischer Minuskel und multispektraler Bildgebung
Bericht zum 9. Alfried-Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur an der Universitätsbibliothek Leipzig
Die Universitätsbibliothek Leipzig bewahrt in ihren Magazinen über 2.000 mittelalterliche Buchhandschriften. Jede von ihnen hat eine einzigartige Geschichte, die von ihrer Herstellung, ihren Besitzer*innen und ihren oft weiten Reisen erzählt und so neue Erkenntnisse über Nutzungs- und Sammlungskontexte der Handschriften und ihrer Inhalte bereithält. Um solche Objektbiographien erforschen zu können, reicht es nicht aus, nur die in den Handschriften überlieferten Texte und Bilder zu untersuchen. Im Zentrum aktueller Forschung stehen daher vor allem auch Fragen zur Materialität der Handschriften. Wie aber können solche Fragen beantwortet werden?
Unter dem Motto „Handschriften verstehen lernen“ fand vom 15. bis 21. September 2024 der 9. Sommerkurs für Handschriftenkultur statt, der 20 Nachwuchswissenschaftler*innen die Möglichkeit bot, sich intensiv mit den verschiedenen Methoden der Handschriftenkunde auseinanderzusetzen. Durchgeführt wurde der Kurs vom Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig, gefördert von der Alfried-Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mit Unterstützung vom Mediävistenverband e.V.
Originale gemeinsam erkunden
Nach einer Begrüßung durch Dr. Anne Lipp (Direktorin der UBL) stellten Dr. Christoph Mackert und Katrin Sturm vom Leipziger Handschriftenzentrum den Teilnehmenden eine Reihe von bisher unerforschten Handschriften des 9. bis 15. Jahrhunderts im Original und digital auf der großen Präsentationsfläche vor. Schnell bildeten sich sechs Gruppen, die sich jeweils eine der Handschriften aussuchten, um diese im Laufe des Kurses näher unter die Lupe zu nehmen.
Jeden Tag gab es viel Zeit, um mit den Originalen zu arbeiten. Schon beim Aufschlagen der Handschriften wurden erste Eindrücke gesammelt: z. B. zum Zustand, zu den verwendeten Sprachen und schließlich auch der Gestaltung der Seiten. Dabei konnten die Gruppen jeweils selbst entscheiden, welche Entdeckungen sie im Laufe des Kurses weiter untersuchen wollten. Von Wachsflecken bis hin zu absichtlich abgeschabter Schrift konnten Hinweise ermittelt werden, die uns heute etwas über die Verwendung der jeweiligen Handschrift im Mittelalter erzählen können.
Flankiert wurde die Gruppenarbeit durch Impulse von Expert*innen, die sich jeweils konzentriert einem Thema der historischen Grundwissenschaften widmeten und aufzeigten, welche Fragen an die Handschriften gestellt werden können. Auf diese Weise wurden wertvolle Kenntnisse vermittelt, die die Teilnehmenden in die Lage versetzen, selbstständig mit Originalen zu arbeiten:
Kodikologie: Dr. Christoph Mackert (Handschriftenzentrum, UB Leipzig)
Paläographie: Prof. Marilena Maniaci (Università degli studi di Cassino e del Lazio meridionale) und Katrin Sturm (Handschriftenzentrum, UB Leipzig)
Wasserzeichenkunde: Julia Seibicke (Handschriftenzentrum, UB Leipzig)
Schreibsprachenbestimmung: Prof. Ulrich Seelbach (Universität Bielefeld)
Buchschmuck: Dr. Maria Theisen (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Abteilung Schrift- und Buchwesen)
Einbandkunde: Dr. Matthias Eifler (Handschriftenzentrum, UB Leipzig)
Provenienzspuren: Dr. Philipp Lenz (Stiftsbibliothek St. Gallen)
Das neu erworbene Wissen aus den Impulsreferaten wurde von den Teilnehmenden sofort an den Handschriften im Raum angewandt. Dabei mischten sich die Expert*innen unter die Arbeitsgruppen, so dass ein intensiver und detailreicher Austausch stattfand.
Obwohl die Arbeit an den Originalen im Vordergrund stand, wurden zahlreiche digitale Hilfsmittel verwendet – darunter verschiedene Kataloge und Digitalisate über das Handschriftenportal sowie digitale Editionen und andere Hilfsmittel.
Ein besonderes Highlight war die Möglichkeit während des Kurses multispektrale Aufnahmen zu machen. Multispektrale Bildgebung wird in wissenschaftlichen Bibliotheken immer häufiger eingesetzt. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem verschiedene Lichtwellen zum Einsatz kommen, sowohl aus dem sichtbaren, als auch dem nicht sichtbaren Bereich (hier: ultraviolettes und infrarotes Licht). Da jedes Material (z. B. Tinte, Pigmente, Pergament) jeweils unterschiedlich auf diese Lichtwellen reagiert, können in den entstehenden digitalen Bildern Informationen sichtbar gemacht werden, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind.
Fragmente zum Klingen bringen
Mittelalterliche Handschriften überliefern nicht nur Texte und Bilder, sondern auch Musik. Diese ist oft nur fragmentarisch überliefert. Nachdem liturgische Bücher, die Musiknotation enthielten, nicht mehr für den Gottesdienst benötigt wurden, wurden diese oft zerschnitten und das wertvolle Pergament als Material für die Herstellung anderer Bücher wiederverwendet. In anderen Fällen wurden einzelne Gesänge auf leeren Seiten in nicht-liturgische Büchern eingetragen.
Wie kann mit dieser unvollständigen Überlieferung umgegangen werden? In einer gelungenen Mischung aus musikalischer Aufführung, Musikwissenschaft und musikalischer Paläographie zeigten Dr. Agnieszka Budzinska-Benett (Ensemble Peregrina – Basel), Michael Braunger (Universität Tübingen) und Dr. Christoph Mackert am Mittwochabend, wie dies geschehen kann. Neben den Kursteilnehmenden kamen auch viele Interessierte aus Leipzig ins Cafe Alibi.
Höhepunkte waren ein zweistimmiges Benedicamus Domino aus der Handschrift Leipzig, UB, Ms 303 – diese Aufführungsweise war besonders wichtigen Festtagen vorbehalten und ist nur sehr selten schriftlich überliefert – und eine Fassung der Pfingstsequenz Veni sancte spiritus aus dem Leipziger Fragment Fragm. lat. 425 (3. Drittel des 14. Jh.), die mit der Musikpraxis am Augustinerchorherrenstift St. Thomas in Leipzig in Verbindung gebracht wurde.
Gemeinsame Schatzsuche in Zeitz
Am Donnertag unternahm der Kurs eine Exkursion nach Zeitz, um weitere Orte kennenzulernen, an denen heute wertvolle Handschriftenbestände für die Forschung zur Verfügung stehen. In der Pfarrbibliothek St. Michael sind die Bestände in ihren historischen Einbänden erhalten und viele sind in Pergamentfragmente mittelalterlicher Handschriften eingebunden. Michael Braunger zögerte nicht, das Thema vom Vorabend wieder aufzugreifen und ein Alleluia von einem Buchdeckel abzusingen.
In der Stiftsbibliothek Zeitz gab der Leiter der Bibliothek Dr. Matthias Ludwig zunächst eine Einführung in die Bestände – er zeigte und erläuterte die bedeutendsten Schätze der Bibliothek, wie z. B. Fragmente einer Ostertafel aus dem 5. Jahrhundert oder die Zeitzer Weltkarte. Danach warteten in einem anderen Raum auf mehreren Tischen verteilt Handschriften auf die Kursteilnehmer*innen. Diese machten sich ohne zu zögern daran, die noch unbekannten Schriftobjekte zu untersuchen.
Handschriftenbiographien zum Abschluss
In einer Abschlussveranstaltung stellten die sechs Gruppen ihre Handschriften jeweils im Plenum vor. Ausführlich und kenntnisreich wurden die Biographien von ihrer Entstehung bis zu ihrem Einzug in die Magazine der UB Leipzig dargestellt. Dabei wurde allen klar: Handschriftenforschung gelingt am besten in einem transdisziplinären Umfeld, in dem sich unterschiedliche Expertisen gegenseitig ergänzen.
Soweit nicht anders angegeben, stammen die Fotos von Andreas Janke.