Liebe Frau Dr. Rösch,
am 1.1.2025 haben Sie offiziell Ihr Amt der neuen stellvertretenden Direktorin der UB Leipzig angetreten. Mittlerweile sind 100 Tage vergangen. Um dieses Jubiläum gebührend zu feiern, wollen wir kurz innehalten und unsere 7 Fragen an Sie richten. Dafür, also um Ihrem Beginn in einer so zentralen Position für Ausrichtung und Funktionieren der UBL gerecht zu werden, haben wir unser klassisches 7-Fragen-Format etwas modifiziert: Wir haben versucht, unsere Fragen stärker auf eine strategisch-inhaltliche Ebene zu heben, Visionen, Ideen und Wünschen mehr Raum zu geben. Natürlich sollte aber auch ein kleiner Blick hinter die Kulissen, ins Private, nicht fehlen.
Frage 1
Sie sind bereits seit 2009 Teil des Teams der Universitätsbibliothek Leipzig. Das ist das Jahr, in dem Sie als wissenschaftliche Volontärin hier begonnen haben. In Ihren 15 Jahren an der UBL hatten Sie verschiedene Positionen inne; zuletzt, d. h. seit 2017 waren Sie Leiterin des Bereichs Bestandsentwicklung und Metadaten; nun sind Sie stellvertretende Direktorin und neben diesem Amt gleichzeitig Leiterin des neu gegründeten Bereichs Open Science. Welche Erfahrungen nehmen Sie aus Ihrer bisherigen Zeit in der UBL mit in Ihre jetzige Tätigkeit?
Meine entscheidende Erfahrung ist, dass es sich lohnt zu fragen, zuzuhören und wirklich zu verstehen, bevor man Entscheidungen trifft. Katharina Malkawi, vor mir erste Volontärin an der UBL, hat ganz am Anfang zu mir gesagt, dass ich lernen müsse, demütig zu sein. Das ist gar nicht so einfach, wenn man mit der Arroganz der Jugend kommt und denkt, alles sofort zu verstehen und besser zu wissen. Das mit der Jugend ist zwar vorbei, aber die Ungeduld sitzt mir durchaus immer mal im Nacken – daher ist es eine wichtige Erfahrung, dass die Entscheidungen die besten und tragfähigsten waren, die man gemeinsam und in sorgsamer Abwägung der verschiedenen Perspektiven getroffen hat. Das hat sich für mich im Organisationsentwicklungsprozess noch einmal sehr deutlich gezeigt.
Aus der Leitungstätigkeit des B1 (Bestandsentwicklung und Metadaten) habe ich vor allem gelernt, dass ich mich nicht nur auf den Erfahrungsschatz und die Kompetenz der Mitarbeiter*innen verlassen kann, sondern auch auf ihre grundsätzliche Lösungsorientierung. Mein Eindruck ist, dass es eine hohe Verbundenheit der Mitarbeiter*innen mit der UB und der eigenen Arbeit gibt, sowie die Bereitschaft Veränderungen anzugehen, wenn diese notwendig sind – auch wenn man selbst vielleicht einen anderen Weg bevorzugt hätte. Das ist ein wertvolles Gut mit dem man als Leitung behutsam umgehen muss. Gegenseitige Wertschätzung ist dafür der Schlüssel.
Frage 2
Sie haben sich bereits sehr früh mit der OA-Transformation beschäftigt und hier für die UB Leipzig vieles erreicht. Wo sehen Sie die entscheidenden Herausforderungen/Veränderungen in diesem Bereich, der sich die UBL in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stellen muss? Welche Wünsche und Hoffnungen verbinden Sie damit?
Kürzlich war der Direktor der ULB Darmstadt, Prof. Dr. Thomas Stäcker, zu Besuch und fragte mich, ob ich denn die „die Open-Access-Rösch“ sei…. Open Access ist in der Tat ein Thema, das mich schon lange und intensiv begleitet und auch motiviert. Natürlich bin ich in erster Linie Dienstleisterin für die Universität und sorge in dieser Rolle dafür, dass Forschende in ihrem Publikationsprozess unterstützt werden. Aber daneben – und damit sind wir bei Wünschen und Hoffnungen – heißt für mich, sich für Open Access und damit den freien Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen einzusetzen, sich für demokratische Teilhabe stark zu machen.
„… sich für Open Access und damit den freien Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen einzusetzen, sich für demokratische Teilhabe stark zu machen.“
Und das genau ist auch die gegenwärtige Herausforderung in der Open-Access-Transformation: Wir müssen sicherstellen, dass die Gewinnorientierung des Publikationsmarktes dieses Ziel nicht wieder konterkariert und nur noch einige wenige es sich leisten können zu publizieren.
Der Ausbau und die Stärkung wissenschaftsgetriebener, unabhängiger und nicht-gewinnorientierter Publikationsstrukturen sind daher wichtige Ziele unserer Arbeit in den kommenden Jahren.
Frage 3
Es ist natürlich nicht der schlechteste Start, an einer Bibliothek als stellvertretende Direktorin zu beginnen, in der man (fast) jeden Winkel, Strukturen sowie Workflows, Philosophie, Geschichte und dazu sicher die meisten, wenn nicht gar alle Kolleg*innen, gut kennt. Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie aber vielleicht auch in dieser Konstruktion oder Kontinuität?

Die eine Herausforderung ist, dass das Vertraut-Sein den Blick dafür verstellen kann, noch einmal ganz neu zu denken und bekannte Fahrwasser zu verlassen. Deshalb ist es gut, dass Anne Lipp häufig diese Rolle einnimmt und hinterfragt, warum wir die Dinge eigentlich so tun, wie wir sie tun.
Nicht ganz einfach ist es zudem, in einem Haus die Hierarchieebene zu wechseln, denn das kann ungewollte Distanz schaffen. Ich vermisse jetzt zum Beispiel die Möglichkeit, die Tür meines Büros zum Gang offenstehen zulassen und damit zu signalisieren, dass ich ohne große Hürden ansprechbar bin – sei es nur, um einen Urlaubsschein zu unterschreiben und dabei drei Minuten über die Arbeit oder auch die Sorge um die pflegebedürftigen Eltern ins Gespräch zu kommen.
Und eine dritte, persönliche, Herausforderung dieser Konstellation ist, für mich dafür zu sorgen, dass die Kontinuität nicht die Veränderung überlagert. Das heißt, dass ich mir selbst auch etwas Einarbeitungszeit erlaube und zugestehe, zu lernen und Fehler zu machen.
Frage 4
Charlotte Bauer, deren Nachfolge Sie ja angetreten haben, hat Sie ein Teil Ihres Weges hier in der UBL begleitet. Was nehmen Sie von ihr mit? – Andererseits sind viele Dinge anders als noch unter der Ägide Bauer: Die Bautätigkeiten und Umgestaltung der Standorte, die von Frau Bauer so meisterinnenhaft vorangetrieben wurden, sind zu einem Gutteil erfolgt und abgeschlossen. Von der OA-Transformation haben wir schon gehört. Gibt es weitere Dinge, die Sie als Ihre ureigenen „Baustellen“ sehen würden?
Ja, ich hatte das große Glück, von Charlotte Bauer begleitet zu werden und von ihr lernen zu dürfen – von ihrem strategischen Weitblick, ihrem Vertrauen auf die eigene Intuition, ihrer Unerschrockenheit, sich als Frau nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen in einem immer noch männlich geprägten universitären Umfeld und von ihrer persönlichen Zugewandtheit und Anteilnahme.
In den letzten Monaten habe ich häufig den Satz gehört, dass es große Fußstapfen sind, in die ich da trete. Meine Antwort darauf ist, dass das in der Tat sehr große Fußstapfen sind – doch das ist gut, denn so dienen sie mir als hilfreiche Orientierung. Meine eigenen setze ich aber bewusst daneben, nicht zuletzt, weil sich unsere Aufgabenprofile deutlich unterscheiden.
So wird ein Fokus in den nächsten beiden Jahren für mich sein, zu unterstützen, die Ergebnisse des Organisationsentwicklungsprozesses so in die Praxis umzusetzen, dass sie zu einer höheren Transparenz und Arbeitszufriedenheit führen. Ein zweiter Schwerpunkt wird das große Thema Katalog und Website sein – dafür die Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit wir bei diesen zentralen Angeboten anschlussfähig bleiben, ist eine große Aufgabe. Und mit der Einführung von FOLIO steht in den kommenden Jahren ein Mammutprojekt an, das wir gemeinsam stemmen müssen und in dem ich meine Rolle sehe, den Gesamtprozess zu steuern und auch hier für Rahmenbedingungen zu sorgen, damit der Umstieg gelingt. Bei diesem Thema kreuzen sich die Linien übrigens wieder: Charlotte Bauer hat vor vielen Jahren die LIBERO-Einführung koordiniert.
Frage 5
Wir haben eingangs bereits erwähnt, dass Sie auch Leiterin des neuen Bereichs Open Science sind: Was hat Sie (und die Universitätsbibliothek Leipzig) dazu bewogen, diesen neuen Bereich zu gründen? Welche Vision für die UBL steht bzw. könnte hierhinter stehen? Was erwarten Sie vom neuen Bereich und dessen Mitarbeitenden?
Mit dem Aufbau des Bereichs ziehen wir auf der Organisationsebene eine schon seit einigen Jahren stattfindende Veränderung im Profil der Universitätsbibliothek nach, das neben der klassischen Literaturversorgung nun auch vielfältige Angebote im Bereich forschungsunterstützender Dienste umfasst. Meine Vision ist, dass sich die Forschenden der Universität mit großer Selbstverständlichkeit an die UBL wenden, wenn sie mit Forschungsdaten, Forschungsinformationen, mit Publikationsvorhaben und Methoden der Digital Humanities arbeiten, weil sie einfach wissen, dass wir sie als UB mit Kompetenz und vielfältigen Dienstleistungen unterstützen können.
„… weil sie einfach wissen, dass wir sie als UB mit Kompetenz und vielfältigen Dienstleistungen unterstützen können.“
Von den Mitarbeiter*innen im Bereich wünsche ich mir, dass sie diese Veränderungen nicht nur mittragen, sondern durch eigene Impulse aktiv mitgestalten.
Frage 6
„Oft vergessen in Danksagungen und doch unerlässlich für gutes wissenschaftliches Arbeiten sind die Bibliotheken. Die Bibliotheken Leipzigs sind mir zwischenzeitlich ein liebgewonnenes zweites Zuhause geworden, denn man kann sich sowohl in ihren Winkeln vor der Welt verstecken als auch sie als Tor zur Welt nutzen.“ – Diese Zeilen stammen von Ihnen, noch aus einer Zeit, als Sie selbst Bibliotheksnutzerin waren. In der Retrospektive scheint es ja fast teleologisch, dass Sie in einer der Leipziger Bibliotheken auch Ihr arbeitstechnisches Zuhause gefunden haben. Denken Sie manchmal noch an diese Zeilen und Ihre Gedanken dahinter? Wie würden Sie die Bedeutung von Bibliothek(en) in Ihrem heutigen Leben beschreiben? Sie können sehr gern persönlich, aber auch dienstlich-strategisch antworten.
Die Zeilen stammen aus meiner Dissertation, oder? Abgegeben habe ich diese wenige Monate, nachdem ich als Volontärin angefangen habe; damals hatte ich also schon den kleinen Zeh in der Tür. Aber eine Beziehung zu Bibliotheken gibt es schon lange: Während des Studiums war ich viel in der UB, meine Magisterarbeit habe ich überwiegend in der ehemaligen Zweigstelle Theologie am Dittrichring geschrieben, weil dort die Literatur stand, die ich brauchte. Ich hatte damals immer ein Kissen dabei, weil mir die Stühle zu niedrig waren… Während meiner Dissertation war dann die DNB mein zweites Zuhause, (großer Lesesaal, dritte Reihe rechts, vierter Tisch von hinten). Und als Kind und Teenager habe ich mich zusammen mit meinem Bruder durch die Rudolstädter Stadtbibliothek gearbeitet.
Trotzdem war der Weg in die Bibliothek für mich keinesfalls zwangsläufig. Meine Bewerbung für das Volontariat war damals eher ein Versuchsballon; ich hatte kaum eine Vorstellung davon, worauf ich mich da einlassen würde. Dass sich die Bibliothek dann als ein so vielfältiges, spannendes und vor allem dynamisches Arbeitsfeld zeigte, war dann eine großartige Entdeckung und ein Glücksfall.
Frage 7
Sie haben nicht nur in der UBL ein neues Zuhause gefunden, sondern auch vor einigen Jahren in Leipzig als Stadt. An welchen Orte können Sie besonders gut durchatmen? Welche Orte sind Ihnen besonders ans Herz gewachsen?
Nun, einige Jahre ist etwas untertrieben – ich wohne seit fast 25 Jahren in Leipzig, das ist mehr als die Hälfte meines Lebens.
Zwanzig Jahre habe ich im Leipziger Westen gewohnt, und die lebendige, bunte Karl-Heine-Straße an einem lauen Sommerabend ist für mich ein Ort, an dem ich mich sehr wohl fühle. Ich sammle in meiner Freizeit Streetart, und der Leipziger Westen ist dafür eine großartige Fundgrube.
Seit einem Jahr aber wohne ich in Gohlis und fahre morgens mit dem Rad am Zooschaufenster vorbei. Wenn dann noch der Nebel über der großen Wiese liegt, ist das ein sehr verzauberter Ort.

Insgesamt aber fühle ich mich dieser Stadt verbunden, weil sie noch immer viele große und kleine Nischen bereithält: Nachbarschaftsgärten, besondere Orte wie den Westflügel oder Veranstaltungen wie den Hörspielsommer. Für jemanden, die in der Provinz groß geworden ist, ist diese bunte Vielfalt und Weltoffenheit noch immer ein großes Privileg.
Credits:
- Titelbild von Swen Reichhold (14.04.2025)