Ein Autorenbild von Basilius dem Großen, die Rolle von Multispektralfotografie und zwei Katalogpublikationen
Intro
Codex ist lateinisch und heißt eigentlich Buch mit zwei Deckeln. Doch der Codex graecus 23 der Universitätsbibliothek Leipzig (Cod. gr. 23) ist kein griechisches Buch mit zwei Deckeln, sondern etwas ganz Besonderes – sogar für Expert*innen, die sich einen Großteil ihres Arbeitstags mit mittelalterlichen Handschriften beschäftigen: eine etwa sechs Meter lange Rolle aus Pergament. Sie wurde Ende des 14. Jahrhunderts gefertigt und überliefert einen griechischen Text. Ganz oben zu Beginn der Rolle ist – wenn auch nur mit Mühe – ein Bild zu erkennen: Es ist stark beschädigt und die Farben sind ausgeblichen. Man konnte zwar erahnen, dass es sich hier um ein Autorenbild handeln könnte, eine genauere Bestimmung war aber nicht möglich. Wie es dennoch geglückt ist, wollen wir im Folgenden kurz vorstellen.
Keep rollin’
Rollen als Trägermedium für Schrift und Zahlen kennen wir heute noch am ehesten aus dem Einzelhandel, wo auf ihnen eine Übersicht über erworbene Produkte und deren Preis gedruckt wird. Während dabei die vollständigen Rollen in kleine Abschnitte zerlegt werden, funktionierten sie in Antike und Mittelalter umgekehrt: Einzelne Blätter oder Abschnitte waren nämlich das primäre Element, die erst in einem zweiten Schritt zu einer Rolle zusammengeführt, d. h. an den Rändern zusammengeklebt oder -genäht wurden.
Auch weil das Auffinden bestimmter Textstellen in Rollen kompliziert war, wurden sie im Mittelalter durch den Codex abgelöst. In einigen Bereichen jedoch wurden weiterhin Rollen verwendet, wie im Verwaltungsschrifttum innerhalb der westlichen Überlieferung (Urkunden, Verzeichnisse und Rechnungen) oder in der Liturgie innerhalb der östlichen Überlieferung. Wahrscheinlich wollte man hier bewusst an vorhandene Traditionen anknüpfen und eine Kontinuität ausdrücken. Insgesamt jedoch bilden Rollen in der mittelalterlichen Textüberlieferung einen ausgesprochenen Ausnahmefall.
Die griechische Rolle Cod. gr. 23
Eine solche überlieferungsgeschichtliche Besonderheit also stellt die Pergamentrolle Cod. gr. 23 dar. Sie ist doppelseitig beschriftet und örtlich wie auch zeitlich sehr gut zu verorten. Das ist nicht selbstverständlich, denn bei mittelalterlichen Handschriften müssen Informationen über Entstehungsort und -zeit in der Regel über Recherchen zu Schrift, Buchschmuck oder auch zu den abgeschriebenen Texten erschlossen werden. Im Fall von Cod. gr. 23 lässt sich jedoch sicher sagen, dass sie vom Schreiber Ioasaph um 1391–1392 im Hodegon-Kloster in Konstantinopel gefertigt wurde. Er kopierte die Basilius-Liturgie auf zehn Pergamentstücke, die er zu einer über sechs Meter langen Rolle zusammennähte. Wir kennen den Namen des Schreibers, weil er ihn selbst nennt.
Zunächst war die Selbstnennung des Ioasaph wegen der starken Abnutzungsspuren allerdings kaum zu erkennen. Erst durch den Einsatz von Multispektraltechnik (MSI = Multispectral Imaging, Bildaufnahme in speziellen Wellenlängenbereichen) und hier insbesondere durch die Verwendung des UV-Filters konnte der Name Ἰωάσαφ sichtbar gemacht werden. Unser Schreiber Ioasaph ist dabei außerdem kein Unbekannter: Cod. gr. 23 ist nicht die einzige Rolle, die er als Schreiber erstellte.
Seiner Schreibernotiz ließ sich durch den Einsatz von UV jedoch noch etwas anderes entnehmen: nämliche die genaue Datierung der Rolle. Als Schreibjahr dürfte wohl ͵στϠʹ (6900) angegeben sein, was übertragen in unsere heutige Zeitrechnung 1391–1392 bedeutet.
Die Rolle enthält Liturgie, also den Ablauf des Gottesdienstes. Genau angegeben ist, welcher Geistliche welche Gebete betet. Aufgeschrieben sind auch alle Gesänge und Worte für die Abendmahlsfeier. Es gibt in der orthodoxen Kirche verschiedene Liturgien, die mit den Kirchenvätern in Verbindung gebracht werden. In Cod. gr. 23 ist die Basilius-Liturgie abgeschrieben. Dies ist auch daran zu erkennen, dass der heilige Basilius zu Beginn des Textes dargestellt ist. Gekleidet als orthodoxer Bischof, hält er allerdings ein Buch und keine Rolle in der Hand. Beim ‚Lesen‘ dieser Abbildung half ebenfalls der Einsatz von MSI, denn auch sie war infolge von Abnutzung und Lichteinwirkung kaum noch zu erkennen. Für das Wiederlesbarmachen wurde eine besondere Aufnahme „VIS-L UV“ (visible light, luminescence ultraviolet) angefertigt, in der die Vorlage mit UV-Licht beleuchtet und auf Lumineszenzen im sichtbaren Bereich untersucht wurde. Anschließend wurde die Sichtbarkeit durch Bearbeitung von Helligkeit und Kontrast noch einmal verbessert.
Im Jahr 1502 schenkte Gennadios, Metropolit von Monembasia, die Rolle dem Kloster der 40 Märtyrer bei Chrysapha in der Nähe von Sparta in Griechenland. In mehreren Ergänzungen findet man Fürbitten für Patriarchen und Metropoliten, die Rolle war also jahrelang in Benutzung. Um das Jahr 1689 besuchte Andreas von Seidel das Kloster. Er reiste als Dolmetscher der Venezianer und sammelte Handschriften. Aus seinem Besitz stammen mehrere Handschriften in der UB Leipzig, vermutlich auch Cod. gr. 23. Wann die Rolle an die UB kam, ist unbekannt.
HIT und MSI an der Universitätsbibliothek Leipzig
Mehrmals war in den vorangegangenen Ausführungen zu Cod. gr. 23 davon die Rede, dass für die wissenschaftliche Aufarbeitung der mittelalterlichen Rolle auf besondere Beleuchtungs- und Aufnahmeverfahren zurückgegriffen wurde, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die ohne sie nicht möglich gewesen wären.
Dass der Einsatz solcher Technik für die Erschließung von Handschriften – bzw. des Altbestands überhaupt – in der UBL möglich ist, verdankt sich der Multispektraltechnik, die mittlerweile regelmäßig und wie selbstverständlich zum Einsatz kommt. Sicher erinnern Sie sich an einige Blogbeiträge, in denen wir berichtet haben, wie wir uns in den vergangenen Monaten und Jahren dem Thema Multispektralfotografie angenähert, hierfür unsere „alte“ HIT Camera (Homrich Imaging Technik, ⇨ Produkt-Website) modernisiert und mit den nötigen technischen Erweiterungen ausgestattet haben. Welchen Weg wir dabei zurückgelegt haben, können sie an unseren älteren Blogbeiträgen ablesen (⇨ Blogbeiträge Der – ach nein – Die neue Hit und Multispektralaufnahmen in der UBL). Die Einsatzmöglichkeiten von MSI sind überaus vielfältig. Seitdem wir die Technik verwenden, konnten wir bereits an verschiedenen Objekten aus ganz unterschiedlichem Material die Erkenntnismöglichkeiten erproben. Hier hieß und heißt es aber weiterhin: Übung macht den oder die Multispektralmeister*in.
Neben der Wahl der korrekten Einstellungen erkennen wir immer wieder (neu), welche Use-Cases sich überhaupt für eine Multispektralanalyse eignen und welche weniger. So mussten wir beispielsweise – schweren Herzens – einsehen, dass, wenn Tinteneinträge auf Pergament gut und vollständig getilgt sind, in der Regel auch keine MSI-Technik mehr hilft, um sie wieder sichtbar zu machen [natürlich versuchen wir es trotz dieser Erkenntnis hin und wieder!]. Dafür haben wir jedoch ebenfalls gelernt, dass eine Untersuchung von Farben mittels MSI gewinnbringend durchgeführt und sich daran ableitende Forschungsfragen sehr gut beantwortet werden können. Beispielsweise konnte für die aus dem späten 15. Jahrhundert entstandene Handschrift Ms 852 eine gefälschte Illustration mittels Falschfarbentechnik nachgewiesen werden. Im 19. Jahrhundert war die Illustration vom Bücherdieb Bruno Lindner selbst angefertigt und als „Ersatz“ für die Originalillustration eingetragen worden (⇨ Tätigkeitsbericht der UBL 2022, S. 18).
In einem anderen Fall konnten wir für ein künstlich gealtertes und bedrucktes Pergamentblatt durch die Infrarot-Aufnahme zeigen, dass es sich nicht um ein mit „echter“ Tinte geschriebenes Original, sondern um einen künstlich gealterten Farbausdruck handelt (⇨ Ausstellung „EinBlick #2: Eine Handschrift aus dem Drucker“).
Katalog zu den griechischen Handschriften der UB Leipzig
Die vorgestellte Rolle Cod. gr. 23 gehört zu den über 120 in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrten griechischen Handschriften. Von ihnen sind etwas weniger als die Hälfte mittelalterlich, die übrigen Bände neuzeitlich; eine Handschrift, der Codex Sinaiticus (Cod. gr. 1) ist noch in der Spätantike entstanden. 88 der Signaturen sind dem „eigentlichen“ Bestand der UB Leipzig zuzuordnen, 30 Bände gehören zum Depositalbestand der Stadtbibliothek Leipzig, der seit den 1960er Jahren in der UBL aufbewahrt wird. Innerhalb eines DFG-Projekts wurden in den 2010er Jahren diese griechischen Handschriften in der UB Leipzig wissenschaftlich tiefenerschlossen. Die Bearbeitung übernahm Dr. Friederike Berger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leipziger Handschriftenzentrum. Sie hat auch die hier vorgestellten Ergebnisse zur Rolle des Cod. gr. 23 erarbeitet und zusammen mit Olaf Mokansky, dem Leiter der Digitalisierung der UB Leipzig und Experten für Multispektralfotografie, die MSI-Spezialaufnahmen initiiert und interpretiert.
Ende des Jahres 2022 erschien ein erster Handschriftenkatalog, der die Ergebnisse des Erschließungsprojekts zu den Handschriften aus der Stadtbibliothek präsentiert. Erst vor kurzem konnte der zweite Katalog publiziert werden, der sich den universitätseigenen griechischen Handschriften in der UB Leipzig widmet.
Band 1: Die griechischen Handschriften der Signaturengruppen Rep. I und Rep. II (Leihgabe Leipziger Stadtbibliothek), beschrieben von Friederike Berger, Wiesbaden: Harrassowitz 2022.
Band 2: Die griechischen Handschriften der Signaturengruppen Cod. gr., Ms Apel, Ms Gabelentz, beschrieben von Friederike Berger, Wiesbaden: Harrassowitz 2024.
Beide Abschlusspublikationen enthalten neben den wissenschaftlichen Beschreibungen der Projekthandschriften auch ausführliche Einleitungen und Register, die einen bestandsspezifischen Zugriff auf die Handschriftenbeschreibungen ermöglichen. Der zweite Band umfasst außerdem auch einen umfangreichen Abbildungsteil mit hochwertigen Fotografien, die von der Digitalisierung der UB Leipzig angefertigt wurden. Darunter auch die MSI-Aufnahme der Rolle Cod. gr. 23. Beide Kataloge werden kurze Zeit nach ihrer Drucklegung auch im Open Access verfügbar sein.
Es ist angedacht, die Katalogpublikationen öffentlich zu begleiten und dadurch gebührend zu feiern. Bereits am 29. Oktober 2024 wird Frau Berger einen öffentlichen Abendvortrag zum Bestand der griechischen Handschriften in der UB Leipzig und zu den Ergebnissen des Erschließungsprojekts halten. Außerdem soll uns im neuen Jahr in einem Format, das wir derzeit noch ausklügeln, der Inhalt der einen oder anderen griechischen Handschrift nähergebracht werden. Wir freuen uns!
Eine wichtige Ergänzung: Die wissenschaftlichen Beschreibungen und die Digitalisate der griechischen Handschriften sind natürlich schon länger online über das Handschriftenportal verfügbar.
Ein gemeinsamer Beitrag von Dr. Friedrike Berger, Olaf Mokansky und Katrin Sturm