Das Jahr 2023

Vom Jahr 2023 sind noch Silvester, Weihnachten und ein paar wenige Tage Adventszeit übrig. Für mich persönlich geht ein besonderes Jahr zu Ende, das erste ganze Jahr als Direktorin der Universitätsbibliothek Leipzig. Es war ein sehr volles und gleichzeitig sehr kurzes Jahr, geprägt von vielen Menschen und Themen.

Die UBL habe ich in den nun fast schon 14 zurückliegenden Monaten als eine Einrichtung kennen gelernt, die sich in allen Bereichen anspruchsvolle Ziele setzt und versucht, diesen gerecht zu werden. Es sind drei Paradigmen, durch die sich mehr oder weniger alles, was wir in der Bibliothek tun, abdecken lassen.

Während der Amtseinführung im Dezember 2022 in der ersten Reihe v. l. n. r.: Charlotte Bauer (stellvertretende Direktorin der UBL), Dr. Anne Lipp und Prof. Dr. Eva Inés Obergfell (Rektorin der Universität Leipzig). Foto: Janine Kittler

Da ist zunächst das Paradigma „Serviceorientierung“ in allen Nutzungsbereichen. Wenn man von außen in einen der Standorte der Bibliothek kommt, sind es zunächst Gebäude, die man betritt. Schnell stellt man aber fest, dass es auch eine Atmosphäre ist, in die man kommt. Vieles wird dafür getan, dass sich Nutzende in den Standorten der UB wohl fühlen. Das beginnt mit der Serviceorientierung an den Theken und hört bei der Ausstattung der Arbeitsplätze für die unterschiedlichsten Bedürfnisse nicht auf. Guter Service heißt auch intensive Öffentlichkeitsarbeit, die alle Zielgruppen im Blick hat.

Die kreativen und regelmäßigen Social Media Angebote sind Ausdruck der Willkommenskultur, die unsere Standorte prägt.

UBL-Study-Playlists auf Spotify und YouTube
Screenshot des Instagram-Accounts der UBL (@ubleipzig).

Dass Nutzende sehr gerne in die UB kommen lässt sich tagtäglich an der hohen Auslastung aller Arbeitsplätze in den Standorten ablesen.

Und auch wenn es nicht so sichtbar ist, so ist es doch unverzichtbar: Guter Service heißt eine gute Verwaltung, die beginnend mit der Poststelle bis zu den zahlreichen Buchungen und Interaktionen mit der Zentralverwaltung dafür sorgt, dass der Laden läuft.


Das zweite wesentliches Paradigma unseres Tuns als Universitätsbibliothek Leipzig lässt sich unter das Stichwort „Zugänglich machen“ fassen. Das umfasst viele Dimensionen: in erster Linie die Erwerbung von wissenschaftlichen Informationen für die Wissenschaft, den Altbestand, in der UB vorhandene Kompetenzen, die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse und nicht zuletzt die Schulungsangebote der UB.

Die wichtigste Form des Zugänglichmachens einer Universitätsbibliothek ist es, dafür zu sorgen, dass Wissenschaftler*innen und Studierende der Universität möglichst umfassend versorgt werden mit allen Informationen, die sie für das wissenschaftliche Arbeiten und Lernen brauchen. Das geschieht über viele Kanäle, die durch die UBL genutzt und ebenso mit entwickelt werden. Das sind Informationsressourcen aus Erwerbung und Lizenzierung, die – dem Servicegedanken folgend – in kurzer Zeit eingearbeitet und bereitgestellt werden. Zur Erwerbung im weiteren Sinne zählt es auch, die verschiedenen Instrumente des Open Access – sei es über Transformationsverträge oder indem OA Diamond Modelle unterstützt werden – zu nutzen und zu unterstützen. Mit dem bereits 2016 eingerichteten Open Science Office ist die UBL hier sehr gut aufgestellt. Schließlich ist passgenaue Erwerbung in Zeiten knapper werdender Budgets ein wichtiges Instrument. Als erste Bibliothek in Deutschland hat die UBL schon vor Jahren die Option einer auch Nutzenden-gesteuerten Erwerbung eingeführt. 

Zugänglich machen heißt neben Informationen zusammentragen vor allem auch, leistungsfähige Such- und Präsentationstechnologien zu entwickeln und zu implementieren, um die rund 80 Millionen verfügbaren Ressourcen für den individuellen Bedarf nutzbar zu machen. Die Besonderheit hier in Leipzig ist, dass der Katalog nicht von einem kommerziellen Anbieter kommt, sondern eine Eigenentwicklung ist – gemeinsam mit einigen anderen Bibliotheken. Die Eigenentwicklung des Katalogs erfolgt aus der Überzeugung heraus, dass es wichtig ist, die Kerndienstleistung der Bibliothek – den Katalog und die damit verbundenen Suchwerkzeuge – mit eigener Entwicklungs- und Bewertungskompetenz gestalten zu können.

Erschließungsarbeit am historischen Altbestand. Foto: Olaf Mokansky

Bezogen auf den Altbestand fällt einem unter dem Stichwort Zugänglichmachen natürlich als erstes die Digitalisierung ein. Vor der Digitalisierung kommt die Erschließung, eine wichtige bibliothekarische Dienstleistung, die zu Unrecht nur selten in das Rampenlicht der Aufmerksamkeit gerät angesichts der Grundlagenarbeit, die hier geleistet wird.

Ein mittelalterliches Handschriftenfragment wird am Original und seinem Digitalisat erschlossen. Foto: Olaf Mokansky

Für die Digitalisierung kommt der UB-eigenen Digitalisierungswerkstatt als Infrastruktur, aber auch als Kompetenzzentrum eine zentrale Rolle zu. Digitalisierung bedeutet nicht nur, die offenkundigen Informationen der Objekte darzustellen, sondern den Objekten auch jene Informationen wieder zu entlocken, die für Jahrhunderte ins Geheime abgetaucht waren. So konnte durch die Multispektralkamera der Digitalisierungswerkstatt ein überschriebener griechischer Text einer Pergamenthandschrift wieder sichtbar gemacht werden. Der Text war nur noch an der Stelle vorhanden, aber bislang – trotz zahlreicher Versuche über Jahrzehnte – dem Pergament nicht mehr zu entlocken.

In unserer Digitalisierungswerkstatt entlarvt dank Multispektralfotografie: das Fragment einer gefälschten mittelalterlichen Handschrift. Foto: Leonie Dosch

Aus dem ungewöhnlich reichen und wertvollen Bestand der UB Leipzig erwächst die Verantwortung, konservatorisch und sicherheitstechnisch alles zu tun, damit dieses kulturelle Erbe für künftige Generationen erhalten bleiben kann. Bestandserhaltung beginnt mit guter Magazinarbeit, die sich ihrerseits an immer neue Anforderungen anpassen muss, wenn sich z. B. – wie jüngst geschehen – herausstellt, dass der Schnitt von Büchern aus einer bestimmten historischen Epoche mit einer arsenhaltigen Farbe eingefärbt ist. Ein weiteres zentrales Element der Bestandserhaltung sind die hauseigene Buchbinderei und die Restaurierungswerkstatt. Für eine Altbestandsbibliothek dieses Kalibers ist es folgerichtig und auch zwingend, dass in der eigenen Restaurierungswerkstatt und Buchbinderei der UB einschlägige Kompetenz vorhanden sind und immer weiter ausgebaut werden. Bestandserhaltung ist eine unerlässliche Voraussetzung für Zugänglichkeit. 

Zugänglichmachen heißt nach wie vor auch Fragmente, die schon lange in Bibliotheken lagern, die aber erst durch eine intensive Befassung mit den Beständen gefunden und teilweise als sensationelle Funde erkannt zu werden. So geschehen mit den zwei winzigen Fragmentstreifen, die einer frühen Version einer Meister-Eckart-Predigt zugeordnet werden konnten.

An der UBL entdeckt: Framente der ältesten bekannten Handschrift mit einem Text von Meister Eckhart. Foto: Olaf Mokansky

Zugänglichmachen heißt schließlich, Segmente des Bestandes in Ausstellungen zu präsentieren, eine interessierte Öffentlichkeit teilhaben zu lassen an den wertvollen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte, die dieser Bibliothek anvertraut sind.

Die in der Universitätsbibliothek auf sehr unterschiedlichen Ebenen vorhandenen Kompetenzen werden in kooperativen Erschließungsprojekten, in Sommerschulen und Workshops, durch Vorträge und Publikationen der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Schulungen im Bereich Informationskompetenz und des Forschungsdatenmanagements schließlich vermitteln Kompetenzen an Studierende und Forschende, um in der Flut an wissenschaftlichen Informationen und Angeboten sicher navigieren zu können.


Impressionen aus dem Insektenmonitoring. Foto: Anna Wypych

Das dritte Paradigma, welches ich an der UB kennengelernt habe, möchte ich unter dem Stichwort „Gestaltungsanspruch“ zusammenfassen. Ich habe hier ein Rollenverständnis vorgefunden, das stark davon geprägt ist, die sich verändernden Aufgabenbereiche einer Bibliothek aktiv mit zu gestalten. Das manifestiert sich in der hohen Zahl an Drittmittelprojekten, aber nicht nur dort. Auch für die ganz klassischen bibliothekarischen Aufgaben zeigt sich der Wille, zu gestalten und Lösungen zu entwickeln – sei es bei der Ausgestaltung neuer Arbeits- und Lernumgebungen in den Standorten oder sei es zum Beispiel in der Magazinpflege mit einem Insektenmonitoring, das in der Zwischenzeit so weit entwickelt wurde, dass es auf dem besten Weg ist, modellbildend zu werden.

Im Bereich Digitale Dienste ist Gestaltungsanspruch besonders wichtig. Die zahlreichen Projekte, die aus dem BDD mit betreut werden – darunter das Handschriftenportal oder das sog. ZDF-Projekt, um nur zwei exemplarisch zu nennen – verbessern in erster Linie die Informationsversorgung für die Wissenschaft. Sie tragen gleichzeitig ganz wesentlich dazu bei, dass an der Bibliothek wichtige technologische Kompetenz aufgebaut wird. Diese Kompetenz ist unerlässlich, um relevante technologische Entwicklungen bewerten und einordnen zu können, um die Grundlagen der Systeme, mit denen wir arbeiten, zu verstehen, um auf Augenhöhe mit kommerziellen Anbietern verhandeln zu können.

Mehr noch als die Themen sind es die Menschen in der Bibliothek und Universität, die mein erstes Jahr geprägt haben. Die große Offenheit, die mir als Person entgegengebracht wurde, war und ist eine ungeheure Willkommensgeste, die mir das Ankommen leicht gemacht hat. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Da ich selbst nicht in einer Bibliothek sozialisiert bin, war meine Lernkurve entsprechend steil. Viele Kolleginnen und Kollegen haben mit ihrem Fachwissen, ihrer Kollegialität und ihrer Geduld dafür gesorgt, dass ich auch an steilen Stellen und anspruchsvollen Kanten gut vorbeikommen konnte – auch dafür bin ich sehr dankbar.

Abschließend noch eine Beobachtung, die mich nachdenklich macht: Bei aller Begeisterung für das spannende Aufgabenfeld einer, dieser Universitätsbibliothek, ist es eine bleibende Herausforderung, nach außen zu vermitteln, was im Maschinenraum einer Bibliothek passiert, was die Rolle der Bibliothek im digitalen Zeitalter ist, warum Bibliothek mehr als Bücher ist. Auch wenn sich Bibliotheken und gerade auch wissenschaftliche Bibliotheken seit mehr als zwei Jahrzehnten wie alle anderen Lebensbereiche durch die Digitalisierung in einem ungeheuren Umbruch befinden, sind es meiner Wahrnehmung nach immer noch die Bücher in den Regalen, die das Bild der Bibliothek prägen. Der Duft des Buches ist nach wie vor eine in Grußworten gerne und für mein Empfinden zu häufig bemühte Assoziation mit Bibliotheken. Das ist insofern problematisch, als die neuen Aufgabenfelder an wissenschaftlichen Bibliotheken, für die es nicht das einprägsame Bild einer Wand voller Bücherregale gibt, kaum eine Chance haben, das Bild von der Bibliothek zu prägen, mehr noch: diese neuen und wichtigen Aufgaben werden in der Wahrnehmung von Bibliothek in den Hintergrund gedrängt. Es ist und bleibt die wichtigste Daueraufgabe einer Universitätsbibliothek, im engen Kontakt mit den Nutzenden und den Fachbereichen zu sein, auf die von dort formulierten Bedarfe zu reagieren, im direkten Kontakt erfahrbar zu machen, was die Universitätsbibliothek zu bieten hat, mit neuen Dienstleistungen das Aufgabenportfolio zu erweitern und niemals den Mut zur Veränderung zu verlieren.

Anne Lipp

Dr. Anne Lipp ist Direktorin der Universitätsbibliothek Leipzig.

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