Vor einigen Wochen erreichte uns im Open Science Office eine ungewöhnliche Anfrage aus der Universitätsbibliothek Alberta, Kanada. Die Bibliothekarin fragte für eine ehemalige Studentin an, ob wir die Dissertation ihres Großvaters auf dem Publikationsserver der Universität Leipzig veröffentlichen würden. Nun werden auf dem Publikationsserver neben Artikeln, Forschungsberichten etc. fast täglich Dissertationen veröffentlicht, das allein war also nicht ungewöhnlich – doch diese Dissertation war schon 1914 entstanden, handschriftlich verfasst und ihr Verfasser längst verstorben!
Welche Geschichte steckt dahinter? Elmer Livinius Luck, der Verfasser der Dissertation, war kanadischer Staatsbürger.
Nachdem er seine Studien am Albert College in Ontario und der University of Toronto mit Auszeichnung abgeschlossen und eine Zeitlang als Lehrer gearbeitet hatte, gab er 1912 seine Stelle auf und zog mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach Leipzig. Es war sein „lang gehegter Wunsch“, an der Universität Leipzig Neue Philologie zu studieren. Er wollte hier bei den renommierten Anglisten Prof. Max Förster und Prof. Eduard Sievers promovieren.
Elmer Luck war nicht nur ein ehrgeiziger Wissenschaftler, sondern auch ein eifriger Fotograf, von dessen Werk noch einiges erhalten ist. Seine Bilder erzählen von Ausflügen mit Familie und Freunden, zeigen aber auch Messen, Umzüge und andere kleine und große Ereignisse des Lebens in Leipzig. So sind sie nicht nur für seine Familie sehenswert, sondern für alle, die sich für Leipzigs Alltagsgeschichte vor über 100 Jahren interessieren.
Leider starb Lucks Frau im April 1914 in Leipzig an Tuberkulose. Trotz dieses tragischen Ereignisses schaffte er es, seine Dissertation fertigzustellen, die Verteidigung war bereits geplant.
Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte diese Pläne: Nachdem Deutschland am 1. August 1914 in den Krieg eingetreten war, wurden die meisten ausländischen Studierenden zwangsexmatrikuliert:
Ausländische Studenten, insbesondere solche aus „Feindesland“, wurden nach Entzug der akademischen Bürgerrechte durch die Uni auf der Basis eines Erlasses des Sächsischen Ministeriums exmatrikuliert, so dass der Anteil ausländischer Studenten von 12 % (1914) auf 3 % (1917) zurückging.
1396 junge Studenten und Angehörige der Universität Leipzig starben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges – Universitätsarchiv Leipzig
Auch Elmer Luck wurde als kanadischer Staatsbürger am 27. August 1914 exmatrikuliert, wenige Tage vor dem Termin für die Verteidigung seiner Dissertation. Dies war das Ende seiner akademischen Karriere, die so vielversprechend begonnen hatte. Luck wurde zunächst zu Hausarrest verurteilt und später verhaftet. Im Rahmen des Gefangenenaustausches konnte er im April 1915 nach Kanada zurückkehren, wo er den Rest seines Lebens in Edmonton verbrachte. Er arbeitete als Lehrer, heiratete wieder und bekam drei weitere Kinder. Luck war außerdem musikalisch aktiv: Er spielte Orgel in der Kirche, dirigierte verschiedene Mandolinenorchester und leitete einen Chor. Elmer Luck starb 1932 im Alter von 49 Jahren in Edmonton, Kanada.
Die gebundene, fertig gestellte, aber nie verteidigte Dissertation verstaubte jahrzehntelang in einer Kiste im Keller der Familie, bis Elmer Lucks Enkelin Sheila Luck sich ihrer annahm. Sie fürchtete, das wahrscheinlich einzige Exemplar des Textes, über den in der Familie viele Erzählungen kursierten, könnte beschädigt werden, deshalb ließ sie die Dissertation scannen. Fasziniert von der Geschichte ihres Großvaters setzte sie sich zum Ziel, seine Forschungsarbeit wieder nach Leipzig zu bringen, wo sie entstanden war, und sie gleichzeitig auch anderen Forschenden zugänglich zu machen. Die Arbeit wurde zunächst in dem Universitätsjournal „Old English Newsletter“ an der Universität von Amherst, Massachusetts, veröffentlicht. Herausgeber Stephen Harris, Professor für Altenglisch, Mittellatein und historische Linguistik, schreibt über Elmer Lucks Dissertation:
„It is a terrific piece of work demonstrating standards of scholarship that most of us can only aspire to. And the topic is as current today as it was 100 years ago.”
Quelle: Private Mail.
Das ist erstaunlich, denn in vielen wissenschaftlichen Disziplinen sind die Forschungsergebnisse schon nach wenigen Jahren, manchmal sogar Monaten, nicht mehr aktuell. Doch Lucks Dissertation mit dem Titel „Lautliche Eigentümlichkeiten der Handschrift Hatton 116“, beschäftigt sich mit einem altenglischen Manuskript. Die Handschrift Hatton 116 befindet sich in der Bodleian Library der University of Oxford und enthält sogenannte Homilien: Predigten in der Form der Auslegung von Bibeltexten.
Verfasser war der Mönch Aelfric, ein bedeutender mittelalterlicher Gelehrter. Luck fertigte in seiner Dissertation eine phonetische Analyse der Handschrift an. Da sich das Objekt seiner Betrachtung nicht verändert hat, können die Forschungsergebnisse auch heute noch hilfreich sein.
So ist die Dissertation von Elmer Livinius Luck nun nach über 100 Jahren wieder dort angekommen, wo sie geschrieben wurde: an der Universität Leipzig. Wir freuen uns darüber mit den Nachkommen von Elmer Luck und hoffen, dass die Arbeit tatsächlich anderen Forschenden nützlich sein kann.
Das Digitalisat der Handschrift ist inzwischen ebenfalls zugänglich, sodass nun gleichzeitig Lucks Dissertation gelesen und seine Ausführungen am Original abgeglichen werden können. Eine Forschungsarbeit über eine Handschrift, die in Oxford liegt, kehrt aus Kanada nach Leipzig, an den Ort ihrer Entstehung, zurück. Was für eine Geschichte über die Verflechtungen von Forschung, Zeitgeschehen und persönlicher Biographie!