Entstehungsgeschichte einer Ausstellung

Von Annaberg in den Ausstellungsraum der Universitätsbibliothek Leipzig

Evangelische Kirchenbibliotheken gehören zu den bedeutendsten Überlieferungsorten unseres schriftlichen Kulturerbes. Unter den Kirchenbibliotheken in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens ragt die Kirchenbibliothek von St. Annen in Annaberg-Buchholz mit ihren rund 3.500 Titeln Druck- und Handschriften hervor. Um diese Sammlung zu erschließen und ihre herausragenden Stücke auch digital zur Verfügung zu stellen, kooperieren die Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde Annaberg-Buchholz und die Universitätsbibliothek Leipzig.

Das Erschließungs- und Digitalisierungsvorhaben – inklusive der notwendigen Restaurierung – wird an der Universitätsbibliothek Leipzig durchgeführt und durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und den Freistaat Sachsen im Rahmen des Landesdigitalisierungsprogramms gefördert. Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Berlin sowie die Landesstelle für Bestandserhaltung in Dresden stellen Mittel für die Restaurierung geschädigter Bücher bereit. Intensive Kooperation und Förderung machen es möglich, die Schätze der Annaberger Kirchenbibliothek für Wissenschaft und Öffentlichkeit zu heben.

Erschließung

Thomas Fuchs über die Katalogisierung von Druckschriften

Ein aufgeschlagenes altes Buch liegt neben einer Computertastatur.
Ein alter Druck wird katalogisiert.
Foto: Olaf Mokansky

Mit der Erfindung des Buchdrucks setzte eine erhebliche Vermehrung der Textproduktion ein. Schon im 16. Jahrhundert wurden im deutschen Sprachraum 150.000 verschiedene Druckausgaben hergestellt. In den folgenden Jahrhunderten nahm die Zahl der gedruckten Bücher immer mehr zu. Von Anfang an stellte die Erfassung dessen, was überhaupt gedruckt wurde, eine kaum lösbare Aufgabe dar. Die Digitalisierung und Zusammenarbeit der Bibliotheken in kooperativen Strukturen brachten erhebliche Fortschritte bei der Erfassung der frühneuzeitlichen Buchüberlieferung. Bei der Katalogisierung werden einzelne Druckwerke nach bestimmten Regeln bibliographisch erfasst. Die Normierung von Personen, Körperschaften und Sachbegriffen ermöglicht einen effizienten Zugriff auf eine große Menge Metadaten in modernen Datenbanksystemen, die wenn möglich mit Digitalisaten der Bücher angereichert werden. Dadurch wird eine ortsunabhängige Recherche und Benutzung der historischen Buchüberlieferung gewährleistet. Die Beschreibung der exemplarspezifischen Merkmale eines Buches tritt dabei als Erschließungsaufgabe neben die Katalogisierung und Digitalisierung.

Digitalisierung

Olaf Mokansky über das Scannen von Büchern der Annaberger Kirchenbibliothek

Moritz Brock-Wenzek, Mitarbeiter in der Digitalisierungswerkstatt der UB Leipzig, bei der Arbeit.
Ein alter Druck wird in der Digitalisierungswerkstatt der UB Leipzig digitalisiert.
Foto: Olaf Mokansky

Die Digitalisierung von Altbeständen gehört zu den vorrangigen Aufgaben der Digitalisierungswerkstatt an der Universitätsbibliothek Leipzig. Für diese Arbeit stehen Spezialgeräte zur Verfügung, um den unterschiedlichen Anforderungen an die Qualität der Digitalisate und den konservatorischen Bedingungen bei der Behandlung der Vorlagen gerecht zu werden. Wie groß ist der Öffnungswinkel, sind Buchschmuck oder Faltblätter enthalten, wie stabil ist die Bindung, gibt es Spezialanforderungen wie die Dokumentation vorhandener Fragmente? Nach diesen Vorgaben richtet sich der Einsatz der jeweiligen Digitalisierungstechnik, die vom Wolfenbütteler Buchspiegel über Grazer Buchtische bis zu speziellen Reprokameras reicht. Die Digitalisierungsarbeiten erfolgen in enger Abstimmung mit den anderen beteiligten Bereichen. So wird die Verfügbarkeit der Digitalisate in bester Qualität gewährleistet, die für die digitale Nutzbarmachung des Bestandes von grundsätzlicher Bedeutung ist.

Beim Digitalisieren über die Schulter geschaut.
Beim Digitalisieren über die Schulter geschaut. Foto: Olaf Mokansky

Exemplarspezifische Beschreibung

Thomas Thibault Döring über die Erschließung der Annaberger Inkunabeln

Der Begriff „Inkunabel“ bezeichnet einen typographischen Druck, der vor dem Jahr 1501 entstanden ist. Seine Katalogisierung stellt besondere Forderungen, weil auch die individuelle Geschichte eines Buches erfasst wird. Welcher Buchbinder stellte den Einband her? Welche Art Buchschmuck wurde verwendet? Welche Personen oder Institutionen haben das Buch besessen? Gibt es handschriftliche Ergänzungen?

In der Kirchenbibliothek Annaberg befinden sich 388 Inkunabeln, für die ein eigener Inkunabelkatalog erarbeitet wurde. Dabei entdeckten wir einen bisher unbekannten Druck, einen niederdeutschen Almanach für die Stadt Halle. Das ist ein Verzeichnis, welche Tage astrologisch betrachtet für Tätigkeiten wie Aderlassen, Waschen oder Säen besonders geeignet sind. Die Erfassung der Einbände ergab, dass die Annaberger Franziskaner eine eigene Klosterbuchbinderei betrieben haben. Die Auswertung der Besitzeinträge und handschriftlichen Notizen brachte die Reste der allerersten Annaberger Schulbibliothek zum Vorschein. Das sind nur einige Ergebnisse der mitunter detektivischen Spurenlese, bei der die Lupe nicht fehlen durfte, in den Annaberger Büchern.

Thomas Thibault Döring untersucht einen alten Druck mit Hilfe einer Lupe.
Thomas Thibault Döring untersucht einen alten Druck mit Hilfe einer Lupe. Foto: Olaf Mokansky

Bestandserhaltung

Fanny Bartholdt über Restaurierungsmaßnahmen an den Annaberger Büchern

Fanny Barthold bei der Restaurierungsarbeit.
Fanny Barthold bei der Restaurierungsarbeit. Foto: Olaf Mokansky

Das fünfköpfige Team der Restaurierungswerkstatt der Universitätsbibliothek Leipzig ist für die Restaurierung sowie Konservierung ihrer Buchbestände zuständig und koordiniert vielfältige in Zusammenhang mit Dienstleistern durchgeführte Bestandsschutzmaßnahmen. Bei der Buchrestaurierung werden Risse, Knicke, Fehlstellen im Buchblock, aber auch die Schäden am Einband, ob Leder, Pergament oder Papier, bearbeitet. Es wird nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich verändert, um Rücksicht auf die Spuren der Zeit an den Büchern zu nehmen. Das historische Objekt soll möglichst in seiner historischen Gestalt erhalten werden.

In der Annaberger Kirchenbibliothek wurde unter anderem an einem Band gearbeitet, bei dem die Deckelmakulatur für die Handschriftenforschung von großer Bedeutung ist. In diesem Fall bestand das Innere eines lederbezogenen Deckels aus aufeinander verklebten Papieren, die Schicht für Schicht freigelegt wurden. Es war wortwörtlich eine Millimeterarbeit, jede der 20 Schichten befeuchteten Papiers mit viel Geduld und ruhiger Hand freizulegen.

Nahaufnahme: Eine Buchseite wird restauriert.
Nahaufnahme: Eine Buchseite wird restauriert. Foto: Olaf Mokansky

Handschriftenfragmente

Christoph Mackert und Katrin Sturm über die Erschließung mittelalterlicher Fragmente

Da ihnen Titelblatt oder Impressum fehlen, verraten mittelalterliche Handschriften meist kaum etwas über ihren genauen Inhalt, über Entstehungszeit und -ort oder über ihren Gebrauchskontext. Diese Informationen müssen mit verschiedenen Methoden erschlossen werden. So kann die Analyse von Schrift oder Buchschmuck Auskunft über Datierung oder auch Lokalisierung einer Handschrift geben, bei deutschen Texten weist die dialektale Färbung auf ein Entstehungsgebiet. Bruchstückhafte Reste von Handschriften bieten allerdings weit weniger Material für die erforderlichen Analyseverfahren.

Infolge der Fragmentierung ist häufig aussagekräftiger Buchschmuck verloren und es stehen nur wenige signifikante Schrift- und Sprachformen zur Verfügung. Wie groß das Potential von Fragmenterschließung ist, hat die systematische Aufarbeitung der Einbandfragmente der Annaberger Kirchenbibliothek gezeigt. Wichtige Neufunde von Texten und Textzeugen bereichern unsere Kenntnis der mittelalterlichen Schriftlichkeit. Rekonstruierbare Handschriften entfalten ein kulturhistorisches Panorama der Region in dieser Zeit.

Katrin Sturm, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Handschriftenzentrum an der UB Leipzig, zeigt ein handschriftliches Fragment in einem Annaberger Druck.
Katrin Sturm, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Handschriftenzentrum an der UB Leipzig, zeigt ein handschriftliches Fragment in einem Annaberger Druck. Foto: Olaf Mokansky
Nahaufnahme eines Fragments in einem alten Buch: Ein schmaler Streifen Pergament, der jedoch viel Aufschluss für die Forschung geben kann.
Nahaufnahme des Fragments: Ein schmaler Streifen Pergament, der jedoch viel Aufschluss für die Forschung geben kann. Foto: Olaf Mokansky

Die neue Sonderausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig „BUCH AUF! Zu Tage geförderte Schätze aus der Annaberger Kirchenbibliothek“ läuft von 26. Mai bis 27. August 2023 und ist täglich von 10 bis 18 Uhr im Ausstellungsraum der Bibliotheca Albertina zu sehen. Der Eintritt ist frei. Thematische Sonderführungen und abwechslungsreiche Vorträge ergänzen die Ausstellung im Begleitprogramm.

Grafik zur Ausstellung
Grafik: GRUETZNER TRIEBE

Thomas Fuchs

Prof. Dr. Thomas Fuchs ist Leiter der Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leipzig.

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