Im Jahr 1724 komponierte Johann Sebastian Bach (1685–1750) die Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26), die dem 2021 bewilligten KEK-Modellprojekt der Universitätsbibliothek Leipzig als Motto vorangestellt war. In seiner Funktion als Thomaskantor brachte Bach diese Kantate im Gottesdienst am Ende des Kirchenjahrs zur Aufführung, zu einer Zeit also, in der es um die Vergänglichkeit und Begrenztheit des Daseins geht. In Satz 3, einem Alt-Rezitativ, heißt es dort sinnfällig: „Die Wissenschaft und was ein Mensche dichtet,/wird endlich durch das Grab vernichtet.“
Die „Vernichtung“ von Wissen, das im gedruckten Buch seine Materialisierung findet, und die Vergänglichkeit dieser aus Kohlenstoff bestehenden Materie wurden tatsächlich augenfällig beim Anblick von sechs Holzdeckelbänden aus der Kirchenbibliothek St. Thomas. Die Holzdeckel der frühneuzeitlichen Objekte waren inklusive ihres Lederbezugs von sogenannten Holzwürmern durchbohrt, die Stabilität des Einbands dadurch vollkommen preisgegeben. Der Befall mit Nagekäferlarven, als die sich die „Holzwürmer“ bei Lichte besehen erwiesen, war so weit fortgeschritten, dass auch die angrenzenden Lagen – also die erste und letzte – des Buchblocks massiv betroffen waren. Die Seiten umzublättern wäre dem Durchreißen einer Perforation gleichgekommen. Dank der Bewilligung eines KEK-Modellprojekts 2021 konnten die sechs Holzdeckelbände der Kirchenbibliothek St. Thomas restauriert werden.
Schwergewichte der Kirchengeschichte
Wie aber kommt es, dass die Universitätsbibliothek Leipzig die konservatorische Sorge für Bände aus der Kirchenbibliothek St. Thomas übernahm? Die Büchersammlung der Kirchgemeinde St. Thomas war bereits, ebenso wie die von St. Nicolai, 1930 als Depositum an die Universitätsbibliothek Leipzig und damit an eine große Wissenschaftsinstitution gelangt, die die konservatorische und wissenschaftliche Verantwortung übernehmen konnte. Erst 2020 anlässlich einer Sichtung des Bestands für die Vermessung und Herstellung von Schutzboxen wurde augenfällig, dass die sechs Bände so stark durch Käferlarvenbefall geschädigt waren.
Ganz klar handelte es sich um historische Schadensbilder: Der Holzfraß an den Deckeln musste bereits mehrere Jahrhunderte zurückliegen. Der vorsichtshalber durchgeführte Test ergab das eindeutige Ergebnis: negativ! Es waren keine lebenden Larven mehr im Buch. Dafür wurden die Bände aus dem Bestand genommen und auf eine dunkle Papierfläche gestellt. Nach ein paar Tagen Abwartens fehlte auch die kleinste Spur von Holzmehl – eine eindeutige und beruhigende Sachlage.
Den Holzwurm interessierte das Material, er wurde satt vom Holz des Bucheinbands. Den Menschen interessiert der Inhalt des Buchs, er sucht geistige Nahrung in der Lektüre. Was also haben die sechs restaurierten Bände zum Inhalt? Als Teil einer historischen Kirchenbibliothek bieten sie Einblick in die theologische Fachliteratur der frühen Neuzeit. Der Band mit der ältesten Druckangabe (Köln 1530) behandelt die vier Konzilien von Nicäa, Konstantinopel, Ephesos und Chalcedon: allesamt Schwergewichte in der Geschichte der Institution Kirche. So wie der Band selbst auch ein echtes Schwergewicht ist. Gerade noch so aus dem 16. Jahrhundert (Hamburg 1596) stammt der Band mit einer Biblia trilinguis, die schon allein drucktechnisch eine Höchstleistung darstellt: Die Druckseiten sind in Spalten unterteilt und bieten den griechischen Text der Septuaginta, den lateinischen der Vulgata und die Übersetzung ins Deutsche. Da lacht das Herz der Philologin!
Zwischen Theologie und Philologie
Historisch gesehen zeigt sich daran, wie philologisch informiert der Superintendent einer Kirche wie St. Thomas zu Leipzig zu sein hatte, wenn sein Wort auf der Kanzel Gewicht haben sollte. Es stellt sich sogleich die Frage nach Charakter und Zielgruppe der Kirchenbibliothek St. Thomas, zu der die sechs Bände gehören. Doch kurz zum Inhalt der übrigen Bände: Diese vier, im 17. Jahrhundert gedruckt, enthalten Kommentare zu verschiedenen biblischen Büchern, darunter zu den vier Evangelien sowie zur Apostelgeschichte, zu den neutestamentlichen Briefen und zur Offenbarung des Johannes, also zu dessen Apokalypse.
Wem aber diente die Bibliothek der Thomaskirche? Als 1539 im Herzogtum Sachsen die Reformation eingeführt wurde, wurde aus der Klosterkirche des Augustinerchorherrenstifts St. Thomas die Pfarrkirche der Thomasgemeinde. Bücher, von Hand geschriebene und gedruckte, wurden aus dem Kloster übernommen, weitere kamen hinzu. Von 1560 an ist de facto von einer Kirchenbibliothek zu sprechen, kontinuierlich mit Geld ausgestattet wurde sie als Institution ab 1579. Honoratioren, ja sogar Bürgermeistern der Stadt gereichte es zur Ehre, die Bibliothek durch Schenkungen zu vermehren. Die Superintendenten waren zuweilen gleichzeitig Theologieprofessoren an der Leipziger Universität. Es entstand eine theologische Gelehrtenbibliothek, die den Leipziger Repräsentanten des lutherischen Bekenntnisses zu „sola scriptura“, „sola fide“ und „solus Christus“ diente.
Nicht nur Originale sind flüchtig
Nach historisch bedingten Höhen und Tiefen – im Dreißigjährigen Krieg etwa gingen Erwerbungen und Schenkungen zurück – umfasste die Büchersammlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ca. 3.000 Bände, die seit 1930 als Depositalbestand in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrt werden. So schließt sich der Kreis. Schwere Holzdeckelbände, in Schweinsleder gebunden, mit Schließen fest verschlossen. Im Chorraum der Thomaskirche fällt der Blick auf die Ölgemälde der Superintendenten: schwere Männergelehrsamkeit, in Talar mit Halskrause gekleidet, die Gesichter fest verschlossen. Ach, wie flüchtig! Noch einmal BWV 26: „Die höchste Herrlichkeit und Pracht/Umhüllt zuletzt des Todes Nacht.“
Der Beitrag wurde zuerst im Februar 2022 auf dem Portal der KEK (Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts) veröffentlicht.
Teaserbild © Buchrestaurierung Leipzig GmbH