Mit Cordula Reuß müssen wir leider bald die nächste hochgeschätzte und langjährige Mitarbeiterin der UB Leipzig in den Ruhestand verabschieden. Wir lassen sie zwar gehen, wenn auch nur sehr ungern, aber nur weil sie uns noch die entscheidenden sieben(einhalb) Fragen beantwortet hat. Wir hätten gern noch viel mehr fragen wollen.
1. Sie arbeiten seit 47 Jahren an der UB Leipzig. Bei manchen Menschen ist nach so einem langen Arbeitsleben eine gewisse Amtsmüdigkeit zu beobachten, aber Sie kommen jeden Tag frisch wie der Morgen und gut gelaunt zur Arbeit. Wie machen Sie das? Was ist Ihr Geheimnis?
Ich glaube das ist mentalitätsbedingt. Ich bin ein fröhlicher, neugieriger und optimistischer Mensch. Außerdem komme ich sehr gern in die UBL und die Arbeit bereitet mir Freude. Das war immer so, auch wenn ich mein ganzes Arbeitsleben in der UBL verbracht habe, waren die Aufgaben immer sehr unterschiedlich und haben mich immer neu gefordert und gefördert.
2. Sie waren in vielen Bereichen der UB Leipzig tätig. Erinnern Sie sich noch an alle und an welche am liebsten? Gab oder gibt es Dinge in Ihrer beruflichen Tätigkeit, die Sie, nun sagen wir mal, nicht so gern gemacht haben? Verraten Sie sie uns?
Nach der Lehre zur Bibliotheksassistentin 1975–1977 habe ich in der Erwerbung, im Geschenk, gearbeitet. Nach dem Fachschulstudium für wissenschaftliches Bibliothekwesen in Leipzig 1978–1981 wurde ich in der Katalogabteilung eingesetzt. Das war nicht mein Wunsch, und es flossen da auch ein paar Tränen, ich wäre lieber in die Benutzung gegangen. 1984 nahm ich dann parallel zu meiner Arbeit in der Katalogabteilung ein Fernstudium für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig für fünf Jahre auf. So hatte ich einen Ausgleich zur von mir nicht so geliebten Katalogisierung.
1991 begann meine Tätigkeit als Fachreferentin erst für Romanistik und Geschichte, später auch Kulturwissenschaften, Afrikanistik, Philosophie, Global Studies, zeitweise auch für Soziologie und Ethnologie. Es war spannend, sich diese Fächer nach und nach zu erarbeiten. Zusätzlich war ich in den 90er Jahren an der Einführung des Bibliothekssystems Allegro beteiligt. Hinzu kam die Verantwortung für die Einführung der RVK (Regensburger Verbundklassifikation). Diese Zeit war nicht immer einfach, weil der Widerstand gegen eine kooperative Sacherschließung unter den Fachreferent*innen recht groß war.
In den Jahren 2000 bis 2003 leitete ich die Erwerbungsabteilung. 2002 begann die Arbeit der Projektgruppe LIBERO zur Einführung des neuen lokalen Bibliotheksmanagementsystems LIBERO, hier war ich stellvertretende Projektleiterin. Seit 2003 bin ich stellvertretende Bereichsleiterin Buchbearbeitung, später „Bestandsentwicklung und Metadaten“ genannt. Ab ca. 2007 habe ich mich dann nebenher gemeinsam mit Peter König, ehemaliger Bereichsleiter Buchbearbeitung, näher mit der UBL-Geschichte und der Altregistratur beschäftigt. Daraus entstanden einige Publikationen, aber auch das Projekt „NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Leipzig“, die große Ausstellung dazu, und es war auch der Beginn der Provenienzforschung an der UBL.
Ich habe eigentlich alles gern gemacht, neue Fachreferate forderten mich, so z. B. die Afrikanistik, die Provenienzforschung, und die Beschäftigung mit der Geschichte der Bibliothek ist und bleibt eine Herzensangelegenheit.
3. Sie haben nicht nur viele Arbeitsbereiche kennengelernt, sondern Sie kennen auch die Bibliotheca Albertina mit ihren zahlreichen Verwinklungen wie Ihre Westentasche. Welcher ist Ihr Lieblingsort in diesem riesigen Haus?
Da ich die UBL noch als halbe Ruine erlebt habe, bin ich immer wieder beeindruckt von der repräsentativen Eingangshalle. Auch die Freihandbereiche mit Ihrem Blick zum Himmel finde ich wunderschön.
4. Eine Ihrer beruflichen Leidenschaften ist die Provenienzforschung, kurz und verknappt die Beschäftigung mit der Herkunft von Kulturgütern. Das Feld der Provenienzforschung ist riesig und es gab und gibt viel zu tun. Was liegt Ihnen besonders am Herzen? Gab es besondere Begegnungen, die Sie besonders berührt haben?
Seit 2008 beschäftige ich mich intensiv damit, die Herkunft von Büchern zu erforschen. Spannend ist dabei, mehr über ihre Vorbesitzer*innen zu erfahren und auch welche verschlungenen Wege manche Bücher nahmen, ehe sie zu uns kamen. Die UBL hat sich wie viele Bibliotheken verpflichtet, vor allem unrechtmäßig erworbene Bücher zu ermitteln, nach eventuellen Erben zu forschen und gerechte und faire Lösungen für eine Restitution zu finden. Das finde ich nach wie vor eine wichtige Aufgabe und da gibt es auch noch einiges zu tun.
Als besonders berührend habe ich die Rückgabe an die Erben des Schriftstellers Raoul Fernand Jellinek-Mercedes, Frau Gabriele Wagner und Herrn Thomas Steiner, am 18. März 2013 im Fürstenzimmer der Bibliotheca Albertina in Erinnerung. Beide waren tief bewegt, die Bücher in Empfang nehmen zu können. Auch heute noch stehen wir in sehr freundlichem Kontakt.
4 ½ Im Rahmen Ihrer Arbeit zur Provenienzforschung haben Sie 2011 gemeinsam mit dem damaligen Direktor Prof. Schneider eine Ausstellung über NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek kuratiert. Wie hoch schätzen Sie die Bedeutung dieses Themas aus heutiger Sicht ein?
Wir leben in einer Zeit, wo es immer weniger Zeitzeug*innen gibt, die persönlich über die selbst erlebten Gräueltaten der Nationalsozialisten berichten können. Andererseits sind rechte Tendenzen weltweit auf dem Vormarsch. Umso wichtiger ist es, in vielfältigen Formen über diese Zeit zu erzählen, bewusst zu machen, dass so eine Zeit nie wiederkommen darf. Gerade die Provenienzforschung kann an Beispielen deutlich machen, in welchem Ausmaß Menschen und Organisationen dem faschistischen Terror ausgesetzt waren. In unserer Ausstellung konnten wir zum Beispiel persönliche Geschichten von Menschen erzählen, die wegen ihrer Gesinnung, ihres Glaubens, ihrer schriftstellerischer Werke Repressalien ausgesetzt waren, verhaftet, gefoltert wurden oder fliehen mussten. Darunter waren jüdische Menschen, Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen, Jehovas Zeug*innen, Gewerkschafter*innen, Freidenker*innen, Esperantist*innen usw.
5. Sie haben über die Jahre sehr viele Fächer als Fachreferentin betreut, Unmengen von Geschenken in den Bestand eingearbeitet. Ist Ihnen hier eine Erwerbung oder ein Erwerbungswunsch besonders in Erinnerung geblieben?
In schöner Erinnerung ist mir z. B. die Erwerbung der Bibliothek von Dietrich Donat in Wilhelmsfeld bei Heidelberg 2007 geblieben. Donat war ursprünglich Leipziger, Thomasschüler, seine Eltern ermöglichten ihm in den 50er Jahren zum Studieren nach Heidelberg zu gehen. Nach seinem Theologiestudium nahm er keine wissenschaftliche Laufbahn an, sondern widmete sich ganz seinem Interesse für die Emblemata-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Er erwarb über Jahre bei Auktionen und Antiquariaten wertvolle Originalliteratur dazu. Diese vermachte er der Universitätsbibliothek Leipzig, außerdem übernahm er noch die Kosten des Transportes sowie die Reisekosten nach Wilhelmsfeld.
Beeindruckt hat mich hier besonders mit welcher Leidenschaft Donat, der nur ein geringes Einkommen hatte und sehr spartanisch lebte, zum Sammler und Bewahrer dieser Literatur wurde und natürlich, dass er sie seiner ehemaligen Heimatstadt und der UB Leipzig vermachte.
6. Wie unterscheidet sich die UB Leipzig aus Ihrer Ausbildungszeit von der heutigen Bibliothek und was ist vielleicht doch gleichgeblieben? Was wünschen Sie sich für die UB?
Die klassischen Aufgaben der Bibliothek, die ich bereits in meiner Lehre ab 1975 kennenlernen durfte, sind weiterhin Kern der Bibliotheksarbeit. Also, ich meine die Erwerbung, die Katalogisierung, die Benutzung oder die Informationsvermittlung. Aber das Wie und das Womit sowie deren Inhalte haben sich natürlich extrem verändert und werden dies auch weiter tun.
Als ich 1975 begann, haben wir z. B. die Katalogkarten für die damals existierenden Zettelkataloge noch mit der Schreibmaschine auf Wachsmatrizen geschrieben und dann mühsam vervielfältigt. Heute katalogisieren wir online im Bibliotheksverbund. Die Bereiche wachsen durch integrierte Bibliothekssysteme immer mehr zusammen. Neue Aufgaben wie Open Science, Digital Humanities kommen hinzu.
Für die UBL wünsche ich mir, dass sie all diesen großen Herausforderungen weiterhin gerecht wird. Die letzten Jahre waren sehr innovativ. Flache Hierarchien und engagierte Kolleg*innen sowie ein gutes Arbeitsklima, wie ich es erlebte habe, sind der Garant dafür, dass die UBL auch in den nächsten Jahren diese Entwicklung fortsetzen kann. Ich bin stolz auf diese Entwicklung und wünsche allen Kolleg*innen dazu weiterhin viel Kraft, Erfolg und Freude.
7. Bei Ihrem Tatendrang haben Sie sicherlich schon Pläne für die Zeit nach der UB Leipzig. Worauf freuen Sie sich besonders?
Ich freue mich darauf, mehr Zeit für meine kulturellen Interessen zu haben. Konzerte aller Art, Ausstellungsbesuche, Freunde treffen, aber auch ein wenig mehr sportliche Betätigung, um mein Handicap, die kränkelnden Knochen, geschmeidig zu halten, stehen auf dem Programm.
Doch auch von der UBL möchte ich mich nicht ganz verabschieden. Die Altregistratur birgt noch viele interessante Geschichten, einige davon würde ich gern noch entdecken und publizieren.
So werde ich als Nutzerin die UBL und besonders den Forschungslesesaal noch oft besuchen.
Und wir hoffen, dass wir an dieser Stelle bald einmal von den interessanten Geschichten berichten können, die Sie noch entdecken werden. Wir wünschen Ihnen alles Gute und sagen auf Wiedersehen – dann zwar nicht als Kollegin, dafür als Nutzerin!
Die Fragen stellten Dr. Sophia Manns-Süßbrich und Dr. Jeannine Kunert.