Wie oft wünscht man sich, zu denen zu gehören, die ein Projekt durchführen können, in dem versuchsweise neuartige Verfahren und Arbeitsweisen angewendet werden. So nämlich definiert sich der Begriff Pilotprojekt. Der Universitätsbibliothek Leipzig wurde 2019 von der KEK ein Antrag für ein solches Pilotprojekt bewilligt. Es sollten zunächst vier der 38 chinesischen Schriftrollen, die im Bestand ihrer Sondersammlungen überliefert sind, behandelt werden. An den Urkunden aus dem 18. und 19. Jahrhundert lässt sich die Bestellung von Beamten durch die kaiserliche Kanzlei nachvollziehen. Die Herausforderung bestand bei diesen besonderen Stücken darin, dass die Schrift nicht wie zu vermuten auf Papier, sondern auf Seide aufgetragen worden war.
Mit welchen Schwierigkeiten war die Lösung dieser Aufgabe verbunden? Die auf die Konservierung von Textilien spezialisierte Restauratorin Edda Säuberlich, die gemeinsam mit dem Papierrestaurator Uwe Löscher den Auftrag ausführte, gab Auskunft. Die Herausforderung, die chinesischen Seidenrollen zu restaurieren, sei enorm groß, der Anspruch hoch und die Ausgangslage komplex gewesen. Bei der ersten Begegnung mit den Rollen sei sie tatsächlich erschrocken, so die erfahrene Restauratorin, die sich vor Jahren beim Masterabschluss immerhin mit mongolischen archäologischen Textilfunden beschäftigt hatte. Doch für das China des 18. und 19. Jahrhunderts seien ihr weder die Herstellungstechniken noch die verwendeten Materialien vertraut gewesen.
Wie umgehen mit Materialmixen?
Die Erfahrung dieser Erstbegegnung ließ Säuberlich aktiv werden. Es herrschte eine gewisse Aufregung. Zunächst ging es darum, die Seidenrollen zu berühren und sozusagen zu beschnuppern. Gleich im Anschluss kam der rationale Weg, Erkenntnisse zu gewinnen, hinzu. Säuberlich trat in Austausch mit Kolleginnen und Kollegen weit über die Grenzen ihrer eigenen Werkstatt hinaus. Sie fragte sich durch: „Ist dir derartiges schon einmal begegnet? Habt ihr Erfahrungen mit solch einem Materialmix aus Seide und Papier?“ Bedachtsam und behutsam näherte sie sich ihrem Restaurierungsgegenstand in enger werdenden Kreisen an, indem sie deduktiv vorging und immer feinere Details ihrer konservierenden Maßnahmen bedachte und vorausplante.
Wir merken, bisher ist noch kein Werkzeug in die Hand genommen, kein Schnitt gesetzt, keine Faser durchtrennt worden. Um nur ein Beispiel für die Dimension der Fremdartigkeit des Materials zu nennen: Eine der Rollen (Nr. 403) besitzt, vergleichbar mit dem Schmutzblatt eines gedruckten Buchs, am Ende einen breiten unbeschriebenen Streifen, der die Umwickelung der Rolle abschließt und so ihren beschrifteten Teil schützt. Dabei handelt es sich um ein Gewebe aus roter chinesischer Seide, in das hauchzarte Streifen aus Papier eingewebt wurden. Noch dazu sind diese Papierstreifen vergoldet.
Die Restaurierung dieses Gemischs aus Seide und Papier konnte nur gelingen, indem Textilrestauratorin und Papierrestaurator aufs engste zusammenarbeiteten. In vielen Fällen war die Quadratur des Kreises zu leisten. Ein Beispiel: Um das saure Papier zu neutralisieren, musste es gewässert werden. Dagegen dürfen Textilien bei der Restaurierung keinesfalls häufig und, wenn überhaupt, nur behutsam mit Feuchtigkeit behandelt werden. Oder die Problematik der Farben: Im 19. Jahrhundert enthielten Farben zum Teil Schwermetalle, was zur Bildung von Ionen und zur Oxydation führt. Eine weitere Gefahr für die Schriftrollen. Ältere Farben aus natürlichen, vegetabilen Stoffen halten dagegen oft besser.
Viele Fragen waren zu Beginn des Pilotprojekts offen. Die meisten davon konnten geklärt werden. Diese Konstellation machte es zu einem ausgesprochen innovativen Projekt. Die Leitlinien waren: sehr viel Zeit bei größtmöglicher Zurückhaltung und sehr behutsamem Einsatz von Feuchtigkeit. Immer wieder Halt! Immer wieder Stopp! Und nachdenken, sich absprechen, innehalten und dann erst handeln. Das übergeordnete Ziel bestand darin, Bearbeitungsmethoden zu entwickeln, die trotz individueller Abwandlungen auf die gesamte Menge an Schriftrollen übertragbar sind. Die guten Erfahrungen des Pilotprojekts und die dabei entwickelten Verfahren zur Behandlung dieser speziellen Objekte machten Mut, 2020 einen Antrag im BKM-Sonderprogramm zur Restaurierung der übrigen 34 chinesischen Seidenrollen zu stellen. Der Antrag wurde bewilligt. So wurde aus dem Abschluss des Pilotprojekts ein Beginn.
Alle Fotos: Uwe Löscher
Zu: Versponnene Texte
Gratulation zum Pilotprojekt!
Kleine Korrektur: Ms. or. 421 trägt nicht „mongolische“, sondern mandschurische Schriftzeichen; das Foto ist leider spiegelverkehrt montiert, sodass sich der Text nicht gut lesen lässt.
Danke für die beiden wichtigen Hinweise. Die Bildunterschrift heißt nun „mandschurisch“, und das Bild ist gespiegelt. Herzliche Grüße aus der Vielfalt der Sondersammlungen