Interview mit zwei Open-Access-Herausgeber*innen
Wissenschaftliche Bücher werden von Wissenschaftler*innen immer häufiger in Eigenregie ohne Hilfe aus der Verlagswelt veröffentlicht, sei es, indem sie verlagsunabhängige Open-Access-Verlagsinitiativen gründen (beispielsweise den Zusammenschluss ScholarLed) oder ihre Publikationsprojekte auf institutionellen beziehungsweise Fachrepositorien im Open Access (OA) realisieren. Das verlangt immer viel Engagement und Eigenleistung seitens der Autor*innen! Die Universität Leipzig begrüßt solche verlagsunabhängigen OA-Initiativen ihrer Angehörigen und unterstützt die Umsetzung von fachlich hochwertigen und nachhaltigen OA-Projekten seit mehreren Jahren finanziell mit dem OA-PublikationsfondsPLUS.
Im September dieses Jahres konnte so wieder eine neue OA-Veröffentlichung mit einer Förderung aus diesem Fonds erscheinen. Der Sammelband „Muslimisches Leben in Ostdeutschland“ versammelt Beiträge von 15 mehrheitlich jungen Wissenschaftler*innen und wurde auf dem Publikationserver der Universität Leipzig öffentlich frei zugänglich gemacht.
Wir sprachen mit den Herausgebenden, Leonie Stenske und Tom Bioly vom Orientalischen Institut der Universität Leipzig, über die Motivation für den Sammelband und ihre Erfahrungen bei der Realisierung dieses OA-Publikationsprojekts.
UB Leipzig: Worum geht es in Ihrem kürzlich erschienenen Sammelband und wie ist die Idee dazu entstanden?
Hrsg.: Unser Sammelband ist muslimischem Leben in Ostdeutschland gewidmet. Darin beschäftigen wir uns in zehn Beiträgen mit der Genese von institutionellen Strukturen, gesellschaftlichen Verhältnissen und Kontexten, in denen Muslim*innen in dieser Region lebten und leben. Die anfängliche Idee entstand im Sommer 2019 bei einem Treffen der Arbeitsgruppe „Moscheegemeinden in Sachsen“ am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Eigentlich sollte im April 2020 eine Konferenz zu dem Thema stattfinden. Kurzerhand sind wir dann angesichts der Pandemie auf eine Publikation umgestiegen – die Themen und Autor*innen hatten wir bereits beisammen.
UB Leipzig: Der Band widmet sich speziell dem muslimischen Leben in den neuen Bundesländern – was ist an dieser regionalen Ausrichtung besonders interessant?
Hrsg.: Mit diesem Fokus betreten wir ein bisher wenig beachtetes Forschungsfeld. Die dominante gesellschaftliche und akademische Perspektive auf muslimisches Leben in Deutschland ist geprägt durch westdeutsche Akteure, Fragestellungen und Strukturen. Auf ganz Deutschland gerechnet lebt zwar in der Tat nur ein sehr kleiner Teil aller Muslim*innen in Ostdeutschland, knapp 3,5%. Diese Menschen, die teilweise zu DDR-Zeiten nach Deutschland kamen, selber in der DDR aufwuchsen, aus dem Westen in den Osten zogen oder seit den 1990ern durch Flucht-, Arbeits- oder Ausbildungsmigration nach Deutschland kamen, sollen aber, ebenso wie ihre Lebensumstände, nicht hinter westdeutschen Narrativen verschwinden. So wollen wir beispielsweise auf die unterschiedlichen Migrationsgeschichten in West- und Ostdeutschland hinweisen, die dazu geführt haben, dass in beiden Regionen unterschiedliche Infrastrukturen muslimischen Lebens existieren. Dabei zeigen die einzelnen Beiträge, dass muslimisches Leben in Ostdeutschland nicht einfach die gleichen Entwicklungen, wie es sie in Westdeutschland seit den 1960er Jahren gibt, zeitversetzt vollzieht, sondern durch die gegenwärtigen Umstände und Diskurse in den fünf Bundesländern einen eigenen Weg geht. Die zehn Beiträge von 15 Autor*innen beinhalten sowohl Fallstudien als auch vergleichende Artikel mit historischen und gegenwartsbezogenen Perspektiven, die ebenso interdisziplinär wie originell sind. Damit leisten wir einen Beitrag zur zusammenhängenden Betrachtung muslimischen Lebens in der Region.
UB Leipzig: Die Publikation vereint viele junge Stimmen – die Mehrzahl der Autor*innen sind Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich in der fortgeschrittenen Studien- oder Promotionsphase befinden. Wie haben Sie sie ausgewählt?
Hrsg.: Wir sind an den Start gegangen mit dem Vorhaben, junge Wissenschaftler*innen für unsere Publikation zu gewinnen. Sowohl die Autor*innen als auch wir als Herausgebende haben durch die Publikation wichtige erste oder weiterführende Erfahrungen in der Wissenschaftswelt gesammelt. Denn das Veröffentlichen von Forschungsergebnissen gehört zur akademischen Arbeit dazu. Allerdings bildet nach unserer Erfahrung genau dieses zentrale Element eine hohe Hürde für junge Wissenschaftler*innen. So können etwa Unsicherheiten, wo die eigene Arbeit publiziert werden kann, Selbstzweifel über Qualität und Relevanz der eigenen Forschung hervorrufen und dazu führen, dass es gar nicht erst versucht wird.
In unserem Call for Papers haben wir also gezielt junge Wissenschaftler*innen angesprochen, die Ausschreibung an Universitäten geschickt, durch viele Mailinglisten gejagt und einzelne Personen direkt angeschrieben. Nachdem die Liste der Autor*innen dann feststand, haben wir als Herausgebende, wenn es gewünscht war, für eine enge Betreuung gesorgt, Gespräche geführt und Wert daraufgelegt, dass die Kommunikation über den Ablauf transparent ist.
UB Leipzig: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Sammelband im Open Access auf dem Publikationsserver der Universität Leipzig zu publizieren?
Hrsg.: Als Anfang 2020 feststand, dass unsere ursprünglich geplante Konferenz zum Thema „Muslimisches Leben in Ostdeutschland“ durch die Corona-Pandemie nicht stattfinden kann, war für uns schnell klar, dass wir das Thema in eine andere Form überführen möchten. So haben wir uns darauf geeinigt, aus den Redebeiträgen Artikel zu machen. Frau Professorin Verena Klemm unterstützte uns von Anfang an bei unserem Vorhaben, einen Sammelband herauszugeben.
Der PublikationsfondsPlus vereinte mehrere Faktoren, die für uns als Herausgebende wichtig waren. Einerseits konnten wir eine finanzielle Förderung beantragen, um eine Lektorin und einen Grafiker zu engagieren, ohne die die Publikation inhaltlich und gestalterisch nicht ihre letztliche Form gefunden hätte. Andererseits ist es mit hohen Kosten verbunden, eine gedruckte Publikation bei einem Verlag herauszubringen. Insofern bietet der Publikationsserver der Universität Leipzig Low-Budget-Projekten wie unserem die Möglichkeit, an renommierter Stelle zu publizieren. Besonders wichtig war uns darüber hinaus, dass auf diese Weise die Publikation als Open-Access-Format erscheinen konnte und dadurch frei zugänglich ist – nicht nur für Wissenschaftler*innen mit institutioneller Anbindung.
UB Leipzig: Sie, die Herausgeber*innen, aber auch die meisten der Autor*innen sind junge Wissenschaftler*innen: Was haben Sie in diesem Open-Access-Publikationsprojekt gelernt, das Sie ja in Eigenregie ohne einen Verlag realisiert haben? Welche Herausforderungen gab es und wie haben Sie sie gemeistert?
Hrsg.: Die Publikation herauszubringen hat ungefähr eineinhalb Jahre gedauert – von der Antragstellung für den PublikationsfondsPlus bis zur Veröffentlichung im September dieses Jahres. So ein Buchprojekt ist definitiv ein Dauerlauf, bei dem wir uns ohne die vielen Unterstützer*innen bestimmt öfter verrannt hätten.
In der Zusammenarbeit mit den Autor*innen, Frau Professorin Klemm, unseren Kolleg*innen, dem Team der UBL und der Unterstützung unseres privaten Umfeldes hat es sich bewährt, um Hilfe zu fragen und geduldig zu sein. Denn als Herausgebende tragen wir die Verantwortung dafür, dass das Projekt weiterläuft und dass die Autor*innen, Lektorin, Grafiker und Fotograf ihre Fristen einhalten. Wir mussten einen Überblick darüber behalten, welche Schritte wann anstehen, welche Abhängigkeiten zwischen ihnen bestehen und vor allem: kommunizieren. Besonders dadurch, dass wir fast den gesamten Publikationsprozess online abgewickelt haben können wir diesen Punkt nicht oft genug unterstreichen.
UB Leipzig: Wenn Sie auf die Mühen der Vorbereitung der Publikation zurückschauen, würden Sie so ein Open-Access-Projekt noch einmal wagen?
Hrsg.: Ja, das würden wir!
… und wir sind dann sehr gern wieder dabei!
Dr. Adriana Slavcheva, Open-Access-Referentin an der UBL
Sind Sie neugierig geworden und haben Ideen oder Fragen zu eigenen OA-Publikationsprojekten? Dann wenden Sie sich gern an unser Open Science Office.