Ukrainische Literatur an der Universitätsbibliothek Leipzig: Bestände, Veranstaltungen, Kooperationen
Im vorigen Jahr haben wir uns sehr über den Besuch der ukrainischen Kolleginnen aus der Ukraine gefreut und hier darüber berichtet. Fast anderthalb Jahre später hat sich leider an der Kriegssituation nichts geändert, aber unsere Kooperationen mit ukrainischen Wissenschaftler*innen konnten erweitert und ausgebaut werden. Während der Leipziger Buchmesse 2023 fand eine Veranstaltung statt, die durch unsere Kollegin Frau Dr. Sophia Manns-Süßbrich organisiert wurde, die auch die Moderation übernahm. Vasyl Cherepanyn, ein ukrainischer Kulturwissenschaftler unterhielt sich mit Kolleg*innen aus deutschen, schweizerischen und österreichischen Bibliotheken darüber, wie es weiter gelingen kann, Unterstützung zu leisten und der ukrainischen Literatur und Kultur noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber auch das sogenannte „Westsplaining“ [siehe dazu insbesondere diese Publikation] spielte eine große Rolle: Wenn Menschen in Westeuropa glauben, die Situation besser einschätzen zu können, bzw. sogar die Lösung kennen, wird eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe unmöglich. Einen Mitschnitt des Gespräches können Sie hier abrufen.
Der Austausch mit den ukrainischen Kolleg*innen, die hier in Leipzig dauerhaft leben und arbeiten, hat sich sehr gut entwickelt und erfreuliche Ergebnisse zutage gefördert. So suchte Prof. Anna Gaidash die deutsche Übersetzung des Theaterstücks „Der weiße Bär und die schwarze Pantherkatze“ von Wolodymyr Wynnytschenko. Sie wollte das Drama im Seminar verwenden. Sie wusste, dass es eine deutsche Übertragung gibt, diese war allerdings nirgends zu finden. Erst unter Zuhilfenahme des Leipziger Verbundkatalogs Lerxe wurde das Werk ausfindig gemacht: Es befindet sich quasi im Nachbargebäude der UBL, in der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater!
Nun konnten die Studierenden die deutsche Übersetzung lesen, die einzige Schwierigkeit, die es nun noch gab, war die Frakturschrift …
Eine weitere ukrainische Wissenschaftlerin und Schriftstellerin arbeitet am Institut für Slavistik: Natalka Sniadanko, deren Bücher sich ebenfalls bereits in unserem Bestand befinden.
Überhaupt, unsere Bestände: Wurden in den vergangenen Jahren schon viele Neuerwerbungen insbesondere von ukrainischer und belarusischer Literatur getätigt, so wurde auch in diesem Jahr vieles neu erworben. Auf das gestiegene Interesse der Nutzer*innen an ukrainischer Literatur insbesondere in deutschen Übersetzungen wurde mit der Anschaffung von Mehrfachexemplaren reagiert.
Darüber freuten sich auch Prof. Olena Brovko und Prof. Snizhana Shygun, die im Oktober zur Ukrainischen Woche von Kyiv nach Leipzig reisten. In drei Vorlesungen und zwei Veranstaltungen im DAI Sachsen berichteten sie von zeitgenössischer ukrainischer Literatur. Die Woche wurde mit Unterstützung des DAI Sachsen finanziert und dort fanden einige Veranstaltungen auch statt. Besonders spannend war die Diskussion am 25. Oktober 2023, die sich dem Thema der „Transformation of Gender Roles on Ukrainian War Literature“ widmete. Im Mittelpunkt dieser Diskussion standen unter anderem zwei Romane, die beide das Kriegs- und das Geschlechterthema anhand von einander diametral entgegengesetzten Figuren schildern. Beide Texte entstanden bereits im Krieg, aber noch vor dem Beginn der vollständigen Invasion durch Russland.
Tamara Dudas „Daughter“ – „Die Tochter“, es wartet noch auf die deutsche Übertragung, enthält den Erlebnisbericht einer Glaskünstlerin, die ohne zu zögern als „Volonter“ – „als freiwillige Helferin“ alles versucht, um dem Vormarsch der russischen Armee im Donbass Einhalt zu gebieten. Sie ist stark und furchtlos, riskiert ihr Leben und organisiert Material und Ausrüstung auf phantasievollen Wegen (Stichwort: Stillforen für junge Mütter). Obwohl sie mit ihren über 1,80 m und einem Körpergewicht von nicht einmal 50 kg nur die „Elfe“ heißt, nennen die Männer sie im Romanverlauf vertrauensvoll und auch stolz „Tochter“. Neben Mut, Ausdauer und Leidensfähigkeit hilft ihr schwarzer Humor und ein unerschütterlicher Wille, das alles durchzustehen, bis auch sie durch die Grausamkeit fast in die Knie gezwungen wird. Doch lesen Sie selbst.
Dem gegenüber steht der Roman „Internat“ des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan.
Darin reist ein Lehrer in einer Stadt im Osten der Ukraine von einem Stadtbezirk zu einem anderen am Ende der Stadt, um seinen Neffen aus dem Internat hinter der Frontlinie wieder zurück in Sicherheit zu bringen. Er ist nicht tapfer, hat Angst und versucht sich aus allem herauszuhalten. Er ist das ganze Gegenteil eines Lehrers, von dem Entschlossenheit, Klarheit und Tatkraft erwartet wird, zumindest aber eine klare Meinung und eine politische Haltung. All das hat er überhaupt nicht.
In beiden Texten werden Gender-Rollen thematisiert, problematisiert, umgekehrt und stellenweise auch persifliert. Die Matrix des ehemals sowjetischen Bildungskonzepts und der Auffassung von konservativen Rollenbildern ist auch eine Form von kolonialem Erbe der sowjetischen Vergangenheit in der Ukraine, die es zu thematisieren und überwinden gilt. Das wurde auch in der anschließenden Diskussion deutlich.
Alle Veranstaltungen wurden zweisprachig durchgeführt: ukrainisch mit englischer bzw. deutscher Übersetzung. Ein großer Dank geht hier an Maryja Kirova, für ihre exzellente Arbeit und ihr Engagement. Die Audiomitschnitte aller Veranstaltungen werden demnächst jeweils in englischer/deutscher und ukrainischer Version auf die Website des DAI Sachsen hochgeladen.
Die Ukrainische Woche 2024 ist schon in der Planung!
Doch zuvor ist an der UB noch ein wichtiges Buch zu besichtigen:
das “Wörterbuch des Krieges“ von Ostap Slyvynsky. Die deutsche Übersetzung lautet: „Wörter im Krieg“ und wurde im Verlag Fototapeta herausgegeben.
Vom 13. Januar bis zum 25. Februar 2024 präsentieren wir das Buch, im Original: „Словник війни“, das genau genommen gar nicht von Ostap Slyvynsky verfasst wurde: Er hat vielmehr Menschen seines Landes, im Land und außerhalb, um Wörter und ihre Geschichten gebeten, sie ihnen teilweise auch abgelauscht und aufgeschrieben. Denn Wörter verändern im Krieg ihre Bedeutung, genauso wie sich sonst alles im Krieg verändert. Daraus ist ein „Wörterbuch des Krieges“ geworden, in dem es auch um Liebe, Sonne und Hoffnung geht und darum sich zu freuen „um sie zu ärgern“. Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, „den ich gehört habe, oder den ich in diesen schweren Tagen noch hören werde“. Diesem Buch und seinen Übersetzungen ist die dritte Ausgabe von EinBlick gewidmet. Die Ausstellung soll anregen, den Wörtern und Geschichten nachzuspüren. Wir hoffen eines Tages präsentieren zu können, wie die Wörter sich wieder zurückverwandeln.
Die Ausstellung wird mit einer Veranstaltung beschlossen, in der es um die Übersetzungen dieses Buches gehen soll, denn es ist bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden. Aber wie ist es möglich ein Wörterbuch des Krieges in eine Sprache zu übertragen, deren Sprecher*innen im Frieden leben? Was bleibt von der literarischen Form des ABCdariums, wenn die Wörter nicht passen? Die Lektorin der deutschen Ausgabe, Dr. Nina Weller, kommt ins Gespräch mit dem Autor und der Übersetzer*in der deutschen Ausgabe. Angefragt ist auch die Übersetzerin des Buches ins Belarussische.
Wir laden Sie dazu herzlich ein!