Buchruinen restaurieren – nur ein starkes Bild oder Teil unserer Bibliotheksgeschichte?
Krieg und Zerstörung fügen dem Menschen Traumata zu, die oft über Jahrzehnte nachwirken. Doch auch einem ganzen Stadtbild oder einzelnen Gebäuden kann man ein bis zwei Generationen danach die Narben solcher Wunden noch ansehen. Gleiches gilt für Bücher, die von Krieg und seinen Auswirkungen in Mitleidenschaft gezogen wurden.
„Aus Ruinen auferstanden. Mengenrestaurierung und Verpackung stark geschädigter Drucke des 16.–18. Jahrhunderts“ lautete der Titel eines Projektantrags, den die Universitätsbibliothek Leipzig für einige Bände stellte, die man nur als Buchruinen bezeichnen konnte. Die Formulierung „Aus Ruinen auferstanden“ spielt auf die 40 Jahre lang gesungene Nationalhymne einer der beiden deutschen Staaten (DDR: 1949–89) an. Denn zur „Ruine“ waren sie nicht durch die unmittelbare Kriegseinwirkung, sondern erst in den Jahren danach geworden.
Bei den Büchern dieses Projekts ging es also um Spuren, die Geschichte hinterlässt. Am 6. April 1945, einen Monat vor Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Bibliotheca Albertina durch Bombardierung zu zwei Dritteln zerstört worden – ein Schicksal, das sie mit anderen Bibliotheken in Deutschland teilte. Der größte Teil der Bestände war ausgelagert worden und blieb dadurch unbeschädigt. Dennoch trug die Universitätsbibliothek Leipzig an der Zerstörung ihres Gebäudes über ein halbes Jahrhundert.
Erhalten ist nicht gleich benutzbar
Zur Zeit der DDR wurde der Bibliotheksbetrieb in dem ruinösen, provisorisch instand gesetzten Gebäude aufrechterhalten. Dieser Kraftakt ist heute noch beachtenswert. Doch Dächer waren bzw. blieben undicht. Die Buchbestände waren in einzelnen Magazinabschnitten Bedingungen ausgesetzt, die mit den Maßstäben der Bestandserhaltung nur als gruselig bezeichnet werden können. Die Bücher in den Magazinen unterm Dach erlitten Feuchtigkeitsschäden. Schimmel bildete sich, wuchs und gedieh.
Da das über einen langen Zeitraum geschah, trugen manche Bücher extreme Schäden davon. Das reichte vom Verlust von Einbänden und der Schädigung von Papier bis hin zum Phänomen der Verblockung der Buchseiten. Das Buch ist dann zwar als Ganzes erhalten, doch die Seiten lassen sich nicht umblättern, was eine Erschließung, geschweige denn Benutzung unmöglich macht.
So war der Stand Anfang der 1990er-Jahre. Die Sanierung der Bibliotheca Albertina wurde bei laufendem Betrieb in Angriff genommen. 2002 erfolgte die Übergabe des sanierten Gebäudes. Die oben beschriebenen historischen Bestände waren ebenso restaurierungsbedürftig. Die feuchtigkeits- und schimmelgeschädigten Bände wurden in den 1990er-Jahren zunächst in breit angelegten Aktionen wie damals gebräuchlich gammabestrahlt. In den 2000er-Jahren erfolgte eine Einteilung in Schadenskategorien. Die Restaurierung und konservatorische Behandlung erfolgte nach und nach, teils in der hauseigenen Werkstatt, teils durch große und kleine Leipziger Unternehmen, die auf die Restaurierung historischer Bestände spezialisiert sind.
Die Spuren bleiben ganz bewusst
Die Menge an Büchern, die noch immer ein Bild des Jammers boten, wurde glücklicherweise kleiner und kleiner. Am Ende blieb ein Rest von 22 stark bis schwerstgeschädigten Drucken des 16. bis 18. Jahrhunderts mit Werken theologischen, philosophischen und altertumskundlichen Inhalts. An diese nur scheinbar vernarbte Wunde, die manchmal in Vergessenheit geriet und sich manchmal mit stechendem Schmerz zurückmeldete, ging der Antrag, den die Universitätsbibliothek Leipzig 2019 an die KEK richtete. Er wurde bewilligt und die Restaurierung der Bände aus BKM-Sondermitteln, flankiert durch sächsische Landesmittel für Bestandserhaltung, gefördert.
Kintsugi. So heißt eine traditionelle japanische Reparaturkunst, deren Methoden ursprünglich für zerborstene Teekeramik entwickelt worden waren. Die ehemals stark geschädigten 22 Bände zu Theologie, Altertumskunde und Philosophie, die sich inzwischen restauriert, katalogisiert und wieder benutzbar im Bestand der Sondersammlungen befinden, erinnern in gewisser Weise an diese Kunst. Die Schäden sind behoben, aber noch nachvollziehbar. Risse sind geschlossen, zersetztes Papier wurde angefasert, fehlende Einbanddeckel sind angesetzt, geplatzte Rücken hinterlegt. Die Spuren der Geschichte sind erkennbar, die den Büchern durch Schimmel und Feuchtigkeit auferlegten Torturen nicht unsichtbar gemacht. Und doch oder besser: Gerade deswegen wirken sie schön. Irgendwie… auferstanden.
Der Beitrag wurde zuerst im Oktober 2020 auf dem Portal der KEK (Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts) veröffentlicht.
Liebe Frau Märker,
Glückwunsch zu den Erfolgen!
Das Elend der Bücher beginnt aber nicht erst im 2. Weltkrieg und dessen Folgen. Alte Bücher haben auch eine lange Geschichte, sie haben viele Orte gesehen und Abenteuer erlebt. Sie haben von Geburt an Kälte, Wasser, Feuer, Ungeziefer und ungehobelter Benutzung über sich ergehen lassen müssen. Vor allem hat sich aber ihr Kulturbild gewandelt. Der Weg ging klar vom Nutzgegenstand mit wichtigen Inhalten zum musealen Kulturgut erbaulicher Betrachtung. Entsprechend war auch der Umgang mit dem Buch, oft über Jahrhunderte. Wollen wir hoffen, dass es einen guten Mittelweg geben wird. Das Buch, ein Nutzgegenstand, dem man mit großer Achtung begegnet und den man nicht nur betrachten und schützen darf, sondern auch mit ihm arbeitet. dabei wird die Digitalisierung helfen. Ich hoffe nur, das die Bücher sich nicht grämen, wenn sie nur noch geschützt herumstehen werden. Denn irgendwie ist darin auch viel Leben ent- und erhalten.
Beste Grüße
Stefan Fischer
Lieber Herr Fischer,
danke für Ihren ausführlichen und anregenden Kommentar. Ja, Bücher führen ein ganz eigenes Leben, und es ist erstaunlich, was es bewirken kann, ein Stück vom eigenen Lebensweg mit ihnen zu gehen.
Ihre Almuth Märker