Die Tote im Weinkeller oder Was ist eine gedruckte Leichenpredigt?

Sarg in Hist. Sax. 46

Der Tod kam zur Mittagszeit in das Haus des wohlbekannten Leipziger Weinhändlers Joachim Schröter und holte dessen Ehefrau Katharina. Der überlieferte Bericht formuliert: „sie wurde aus dieser Vergänglichkeit in die ewige Herrlichkeit aufgenommen“.

Dies alles hatte an
ihren Kräften gezehrt. 

Katharina hatte ihrem Eheliebsten in sieben Jahren fünf Kinder geboren, diese samt den Kindern aus der ersten Ehe ihres Mannes, den Haushalt und natürlich auch den Gemahl selbst aufopferungsvoll umsorgt. Dies alles hatte an ihren Kräften gezehrt. „Ob nun gleich alle behagliche Stärkung gebraucht worden, so hat sich doch ihre Unpässlichkeit nach und nach also gemehret, daß ein febris maligna cum petechiis (bösartiges Fieber mit Hauteinblutungen) drauß worden“. Später stellte sich ein „schmertzlich Hauptweh mit großem Durst und Mattigkeit“ ein. Der „medicus“ setzte alle erforderlichen Mittel ein, also zuvörderst den Aderlass. Dazu verordnete er „herrliche Alexipharmaca (Gegengifte) mit Bezoarticis vermischet und andere köstliche Arzneien“. (Bezoare sind Verklumpungen von unverdaulichen Materialien, z. B. Haaren, die den Mägen von Raubtieren entnommen und als Medizin verabreicht wurden.) 

Foto vom Einband der Leichenpredigten

Aber alles half Katharina nicht wirklich, am siebten Tag trat eine „crisis per secessum“ (Durchfall) und am neunten Tag ein „Steckfluß“ (Lungenödem) ein. Dies konnten die Herren Medici noch „durch unverdrossene Vorsorge und Erfahrenheit“ abwenden. Die dadurch aufkeimende Hoffnung zerschlug sich am zehnten Tag, da sich „weisser Friesel“ (Hautausschlag) und am vierzehnten Tag „merckliche convulsionibus“ (Krämpfe) einstellten. Zwei Tage später am 21. Februar 1677 gegen 1 Uhr mittags, war es vorbei. Katharina Schröter, geb. Jägerdorf, wurde 27 Jahre, 2 Monate und 7 Tage alt.

Woher wissen wir heute so genau Bescheid, woran im Jahr 1677 die Ehefrau eines Weinhändlers erkrankte und starb? Über die letzten Tage vieler hochberühmter Personen der Geschichte haben wir nicht annähernd so viele Informationen. Was war Besonderes an Katharina Schröter? Eigentlich nichts – bis auf die Tatsache, dass sie im protestantischen Teil Deutschlands in der Zeit von etwa 1550 bis etwa 1730 gelebt hat.

Trauer wird zu viel Papier

In dieser Zeit, in dieser Gegend gab es eine spezielle Erscheinung in der Trauerkultur: die gedruckte Leichenpredigt. Diese Bezeichnung nimmt allerdings einen Teil für das Ganze, soll heißen: diese Druckerzeugnisse beinhalten nicht nur die Predigten, die anlässlich der Beisetzung gehalten wurden, sondern sind weit umfangreicher. Eine gedruckte Leichenpredigt hat ungefähr folgenden Aufbau. 

„Voll eingeschenckter Wein
in Gottes Weinkeller.“

Zunächst das Titelblatt, welches zur Mitteilung der wesentlichen Informationen dient – wer ist gestorben, wer war der/die Betreffende, wann wurde beerdigt, welcher Pfarrer hat die Beerdigung durchgeführt, über welchen Bibelspruch wurde gepredigt, wo und wann wurde das Ganze gedruckt. Der Titel ist manchmal recht sachlich gehalten (Leichpredigt bei dem Begräbnis der/des xy), häufig aber in barocker Pracht verfasst: „Der durstige nach frischen Born-Wasser schreyende Seelen-Hirsch“ oder „Göttlicher Pantzer welcher der himmlische Feld-Herr Christus Jesus … seinen Glaubensrittern angelegt“ oder „Die brummende Hertzens-Harffen von zwölf Saiten“. Gern wurde bei der Titelfindung auf den Beruf der verstorbenen oder der trauernden Person angespielt. So heißt die Leichenpredigt für Katharina Schröter: „Voll eingeschenckter Wein in Gottes Weinkeller.“

Titelblatt der Leichenpredigt für Katharina Schröter
Titelblatt der Leichenpredigt für Katharina Schröter

Dem Titelblatt folgt die eigentliche Leichenpredigt. Als erstes wird der Bibeltext mitgeteilt, den die Predigt thematisierte, auch „Leichentext“ genannt. Meist wird der Bibelspruch schon auf dem Titelblatt genannt, hier wird er wiederholt. Für Katharina Schröter wählte der Thomaspfarrer Johann Benedict Carpzov eine Zeile aus dem zweiten Kapitel des Hoheliedes „Er führt mich in den Weinkeller, und die Liebe ist ein Zeichen über mir.“ Auch hier ist erkennbar, dass der Bibeltext auf Grund der Tätigkeit des Ehemannes als Weinhändler ausgesucht wurde. 

Es folgt die Einleitung, auch Exordium genannt, die feststellt, warum man sich versammelt hatte und was von der folgenden Predigt zu erwarten sei. In unserem Beispiel führt Carpzov aus, dass die selig Entschlafene nicht nur vor sieben Jahren durch die Heirat in Joachim Schröters Weinkeller geführt wurde, sondern eher schon, als fromme Gottesverlobte, vom Herrn in seinen Weinkeller – die Kirche – geleitet worden war. 

Es folgt der Hauptteil der Predigt, in der das einleitende Bild zur breiten Entfaltung gebracht wird. In Gottes Weinkeller sähe es so aus, dass „auf einer Seiten der bittere Wermuthwein der Anfechtung und des Creutzes, der nicht wohl zu Hals will, auf der anderen der süsse, wohlschmeckende fernewein (Falernerwein) des Trostes und der Freude“ liegt. Nun listet Carpzov auf sieben Druckseiten Beispiele aus der Bibel auf, da diverse Protagonisten süßen oder herben Wein getrunken haben. 

Den sauren Wein des
Leides (…) trinken

Am Ende dieser Aufzählung folgt die Applicatio, der Teil der Predigt, in dem die gewonnenen Erkenntnisse auf das Leben der Zuhörer angewandt wurden. In unserem Beispiel wird festgestellt, dass man genauso bereit sein müsse, den sauren Wein des Leides zu trinken, wie man den süßen Wein der Freude genießt. Das klingt rund und nach einem guten Ende, aber die Schröterschen Trauergäste kamen nun doch nicht so billig davon. 
Carpzov vertieft diesen Gedanken zunächst bezüglich des herben Weines auf 15 Druckseiten, auf denen irgendwann auch Satan und Judas Ischarioth eine Rolle spielen und Carpzov deswegen oder irgendwie überhaupt zunehmend ins Griechische verfällt. Dem weniger werbebedürftigen süßen Wein werden abschließend nur sieben Druckseiten gewidmet. Selbstverständlich war die eigentliche, anlässlich der Beerdigung gehaltene Predigt kürzer (wir hoffen es jedenfalls), und die Druckfassung nachträglich angereichert.

Was nach der Predigt noch so kommt

Den Abschluss (…)
bildeten Trauergedichte

Soweit die Leichenpredigt. Nun folgt der Lebenslauf der/des Verstorbenen, dem die eingangs mitgeteilte Krankengeschichte der Katharina Schröter entnommen wurde. Der nächste Teil ist die Abdankung, eine Trauerrede profanen Inhalts, die von einem Hinterbliebenen zur Würdigung der/des Verstorbenen gehalten wurde und auch dazu diente, den erschienenen Trauergästen für ihre Teilnahme zu danken. In unserem Beispiel wurde sie von Joachim Schröter selbst gehalten, der dazu „auf den von Thränen umbronnenen Trauer-Platz“ trat. Den Abschluss einer gedruckten Leichenpredigt bilden Trauergedichte, die von Angehörigen oder Freunden der Familie verfasst wurden. 

Wenn der Verstorbene Mitglied einer Universität war, folgten noch ein Programm auf Latein, in dem ebenfalls Leben und die akademischen Verdienste gewürdigt wurden und lateinische Epicedien (Trauergesänge), von Universitätskollegen gedichtet.

Mitunter sind die Leichenpredigten mit einem Porträt der/des Verstorbenen ausgestattet. Es gibt auch andere Bildbeigaben, z. B. die Abbildung des aufgebahrten Sarges. Bei fürstlichen Toten gibt es großformatige Darstellungen des Trauerzuges. Auch die Noten der gesungenen Trauerlieder sind gelegentlich abgedruckt.

Trauerzug (Auszug aus Hist. Sax. 66)

Diese Leichenpredigten wurden auf Veranlassung und auf Kosten der Hinterbliebenen hergestellt. Sie waren keine Verlagsprodukte, die ein Drucker oder Verleger initiierte und auf dem Buchmarkt zu platzieren suchte. Sie waren Gelegenheitsschriften, die in relativ geringer Auflage (zwischen 100 und 300 Exemplare) angefertigt und an Angehörige und Freunde der Familie und an den Pfarrer verteilt wurden. Der Brauch, solche Predigten zu drucken, entwickelte sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Am Anfang waren es vor allem fürstliche Personen, deren Ableben solcherart dokumentiert wurde. Aber nach und nach begannen auch Kaufleute, Gelehrte, Geistliche, Mediziner, Rechtsanwälte und wohlhabende Handwerker ihrer Toten dergestalt zu gedenken. Da die Inanspruchnahme eines Druckers natürlich nicht billig war, gab es keine Leichenpredigten von armen Menschen.

Und heute? Wozu brauchen wir das?

Im nostalgischen Angedenken an
eine Zeit, als Bibliotheksdirektoren
noch Lyrik verfassten.

Gedruckte Leichenpredigten haben für die historische Forschung große Bedeutung. Für viele Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts sind die Leichenpredigten die wichtigste biografische Quelle. Genealog*innen finden darin eine Fülle an Material, weil in den Lebensläufen alle Familienmitglieder und Verwandtschaftsbeziehungen aufgelistet werden. Auch die mitgedruckten Trauergedichte mit Verfasserangaben bieten wertvolle biographische Informationen. Medizinhistoriker*innen finden in den Lebensläufen zahlreiche Krankenverläufe geschildert. Weitere Daten lassen sich aus den Lebensläufen extrahieren: welche Ausbildungsstufen haben welche Berufe gehabt? Wie war das Reiseverhalten z. B. von Kaufleuten? In welche Institutionen, Verwaltungsämter, Ehrenposten wurde wer wann berufen? Die Frageliste ließe sich fortsetzen. Ebenfalls für die Theologie, speziell für die Geschichte der Predigt ist viel zu gewinnen.

Und ein weiterer wichtiger Punkt: Von vielen kleinen Druckereien, meist in kleinen Städten, haben wir nur Kenntnis, weil diese Werkstätten Leichenpredigten gedruckt haben. Unser Wissen um die Geschichte der Druckkunst wäre ohne die Leichenpredigten ärmer.

Ein letztes Mal zu Katharina Schröter. Unter den Trauergedichten findet sich auch eines von Joachim Feller, der damals Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig war. Auf einem Blog der UBL müssen wir dies natürlich mitteilen, auch im nostalgischen Angedenken an eine Zeit, als Bibliotheksdirektoren noch Lyrik verfassten.


Er wird nach süßen Wein zum andern mahl mit Gallen
Mein werther Freund getränckt / indem er missen muß
Das / was ihm oft gelabt mit treuen Liebes-Kuß.
Doch laß er diesen Kelch des Höchsten sich gefallen
Das Leiden dieser Zeit ist wie ein Kräuter-Wein
Der zwar was bitter schmeckt / doch heilsam pflegt zu sein
Eilend schriebs dem Herrn Wittwer zum Trost L. Joachim Feller P.P.


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