Videospielforschung in der Praxis
Bis nach Japan hat es sich bereits herumgesprochen: An der Universitätsbibliothek in Leipzig gibt es eine Videospielsammlung, die gespielt und natürlich auch erforscht wird. Anfang November 2018 berichtete die Nationale Parlamentsbibliothek Japans (国立国会図書館) über den Ausflug von Tracy Hoffmann und Peter Mühleder ins Baltikum. In Kaunas hatten die beiden auf der Konferenz der EARJS (European Association of Japanese Resource Specialists) die Sammlung japanischer Videospiele an der Universitätsbibliothek präsentiert.
その先駆的な活動は日本国内で同種メディアを所蔵する機関にとっても大いに参考となる先行事例であったといえるだろう。
Die Videospielsammlung der Universitätsbibliothek gilt dabei als zukunftsweisendes Beispiel für japanische Einrichtungen, die über ähnliche Mediensammlungen verfügen.
Bereits im Sommer des vergangenen Jahres, anlässlich der 45. Konferenz des Arbeitskreises Japan-Bibliotheken, hatte die Nationale Parlamentsbibliothek von der Sammlung berichtet.
Doch nicht nur auf dem Gebiet der Sammlungserschließung und Zugänglichmachung der Videospiele für Forschung und Lehre hat es in den vergangenen drei Jahren Fortschritte gegeben, auch in der Erforschung des “Videospiels” als Kulturgut gibt es erste Ergebnisse und natürlich noch mehr Fragen, die beantwortet werden wollen. Die Universitätsbibliothek arbeitet mit dem Institut für Japanologie der Universität Leipzig zusammen an Möglichkeiten der datenbasierten Forschung am Spiel.
Dass aus bibliothekarischer Sicht die Erschließung des Videospiels als Forschungsgegenstand keineswegs trivial ist und auf welche Probleme man stoßen kann, werden wir im Folgenden erläutern.
Spielen ≠ Forschen
Ein Traum wird wahr: Fürs Videospielen bezahlt werden. Damit dieser Wunsch in Erfüllung geht, kann einerseits die Karriere als professionelle Gamerin oder Gamer in Betracht gezogen werden oder aber die als Forschende in der Universitätsbibliothek. Denn auch hier werden Videospiele gespielt. Als Bibliothekarin oder Bibliothekar steht man jedoch vor der Aufgabe, den Zugang zu diesem Medium für die Forschung herzustellen.
Spiele sind zu einem integralen Bestandteil der Alltagskultur avanciert, der sich in digitalen Räumen entwickelt und verschiedenste Themen verbindet. Insbesondere Videospiele aus Japan hatten und haben einen besonders großen Einfluss auf die gesamte Entwicklung dieses Mediums. Dort nehmen sie schon lange einen wichtigen kulturellen und wirtschaftlichen Platz in der zeitgenössischen Medienlandschaft ein und können dementsprechend nicht in der aktuellen Forschung zu Gesellschaft und Kultur ignoriert werden.
In Deutschland allerdings sind Verfügbarkeit und Zugang zu Videospielen an Universitäten und wissenschaftlichen Bibliotheken bisher nur begrenzt möglich. Das liegt unter anderem daran, dass Videospiele viele Herausforderungen an Bibliotheken stellen: Sei es die erforderliche technische Ausstattung, nicht vorhandene genormte Vokabulare bei der Erschließung oder das Fehlen von eindeutigen Identifiern und Definitionen.
Datenbasierte Spurensuche
Mit diesen Herausforderungen befasst sich das Forscherteam des diggr-Projektes (Databased Infrastructure for Global Games culture Research). Fragen von Forscherinnen und Forschern der Japanologie und der Kulturwissenschaft sollen in dem Projekt beantwortet werden. Dafür werden umfangreiche Metadaten zu Videospielen benötigt. Dazu gehören unter anderem Titel, Alternativtitel, Erscheinungsdatum, Erscheinungsland und Plattform (z.B. PlayStation 3, XBox 360). Da keine vollständige Videospieldatenbank existiert, müssen verschiedene Datenquellen miteinander kombiniert werden. Die Daten liegen also verteilt vor und sind mitunter unvollständig oder falsch.
Es gibt Datenbanken mit einem breiten Fokus (z.B. Mobygames.com) und viele kleinere, spezialisierte Datenbanken (z.B. Adventuregamers.com). Neben diesen Fan-Datenbanken werden auch von Institutionen – beispielsweise der USK – Datenbanken betrieben. Speziell für japanische Videospiele gibt es die Media Art DB, die nahezu alle der in Japan erschienenen Videospiele enthält.
Als größere Herausforderung stellte sich die Verknüpfung von Einträgen dieser Datenbanken mit anderen dar, z. B. mit dem Ziel Aussagen zu treffen wie: „Dieses Spiel in Datenbank X ist das gleiche Spiel wie in Datenbank Y“. Ein Grund dafür ist, dass Spiele sehr unterschiedliche Titel haben können. Insbesondere bei dem Schwerpunkt auf in Japan produzierte und erschienene Spiele stolpert man schnell über dieses Problem. Je nach Erscheinungsland und -zeitpunkt können sich sogar die Nummerierungen der Titel ändern. Beispielsweise ist der erste Teil der Kings Field Reihe nie in den USA erschienen und der zweite Teil wurde später in den USA unter dem Titel King’s Field 1 veröffentlicht.
Das Problem der unterschiedlichen Titel kann nur mit halbautomatischen Verfahren gelöst werden, wo auch weiterhin Menschen die Verlinkungen prüfen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Probleme, die mit herkömmlichen Algorithmen zur Verlinkung von Datensätzen nur schwer zu lösen sind. So herrscht große Uneinigkeit darüber was ein konkretes Videospiel in den einzelnen Datenbanken ist.
Im Folgenden skizzieren wir nur ein paar der wichtigsten Fragen: Ist ein Spiel ein konkretes Objekt oder ein Konzept? Sind beispielsweise die englische und die deutsche Versionen das gleiche Spiel oder eher unterschiedliche Ausprägungen? Was ist mit erweiterten und verbesserten Neuauflagen (Gold Editionen, Re-Releases auf anderen Plattformen, etc.) oder Erweiterungspaketen (DLCs)?
Um diese komplexen Zusammenhänge und Verknüpfungen beschreibbar zu machen, haben wir ein Vokabular entwickelt, das die Beziehungen zwischen den verschiedenen Datensätzen in Videospieledatenbanken ausdrückt. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass ein Spiel auf verschiedenen Plattformen (Konsolen) erscheint, für die es mitunter für unterschiedliche Regionen der Welt auch unterschiedliche Editionen geben kann. Diese Editionen können dann wiederum – manchmal angepasst (übersetzt, gekürzt, modifiziert) – als lokale Veröffentlichung vertrieben werden.
In einem exemplarischen Anwendungsfall wurde dies nun angewendet, um die vielleicht trivial anmutende Frage: “Wie hat sich die videospielproduzierende Industrie in Japan in den vergangenen 30 Jahren verändert?” beantworten zu können.
Um belastbare Aussagen treffen zu können, braucht es zunächst eine Aufstellung aller im fraglichen Zeitraum erschienenen oder produzierten Spiele. Weiterhin benötigt man alle Firmen, die an der Spieleproduktion beteiligt waren, um sich ein Bild über die Veränderungen dieser Industrie machen zu können. Da im betreffenden Fall alle Informationen nur spärlich gesät waren, benötigte es viel statistisches Fingerspitzengefühl, um eine repräsentative Stichprobe aus Spielveröffentlichungen des fraglichen Zeitraums zu ziehen. Das war deshalb erforderlich, weil die Grundgesamtheit, über die wir Aussagen treffen wollen, aus Informationshäppchen besteht, die aus verschiedenen (Daten-)Quellen zusammengeführt wurden.
Beispielsweise wurden aus Wikidata Geoinformationen über den Hauptsitz der beteiligten Firmen herangezogen. Anschließend konnten, über einen bestimmten Zeitraum hinweg, die geografischen Daten der Firmenstandorte auf einer Weltkarte eingezeichnet werden. Während die Produktion der Spiele in den frühen Jahren (1983–1993) überwiegend in der Hand von Firmen lag, die ihren Hauptsitz in Japan hatten, waren in den späteren Abschnitten unserer Daten (2005–2015) mehr Firmen in mehr Regionen der Welt beteiligt. Das lässt darauf schließen, dass sich die Produktion für den japanischen Markt über die Zeit internationalisiert und diversifiziert hat. Gleichzeitig konzentrierte sich die Produktion auf wenige Regionen in Nordamerika, Europa und Asien.
Mit konkreten Anwendungsmöglichkeiten dieser und weiterer Forschungsergebnisse sowie erster Prototypen zur Erkundung von Videospielen im Bibliothekskatalog, und einer der umfangreichsten erschlossenen Sammlungen japanischer Videospiele außerhalb Japans beschäftigen wir uns im nächsten Teil, wenn es wieder heißt: LEVEL UP!⭐.
Von Tracy Hoffmann und Florian Rämisch
Das gesamte diggr-Projektteam ist auf der Projektseite zu finden.
Danke für diesen tollen Blog. Macht weiter so.
Auch ich bedanke mich für diesen Bericht und schließe mich (nicht zynisch, sondern immer noch mit ein wenig Hoffnug) der „Vorrednerin“ an: Macht weiter so!