Dieser Text von Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig von 2006 bis 2022, erschien zuerst im Tätigkeitsbericht 2021.
Im Januar 2006 habe ich als Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig begonnen und beende meine Tätigkeit nach 16 Jahren und drei Monaten im März 2022. Es war eine mehr als erfüllte Zeit, ein wunderbares Arbeiten in der Bibliothek selber, in und mit der Universität und der Stadtgesellschaft. Ich kam in Leipzig an und brachte sieben Jahre praktischer Bibliothekserfahrung in der Leitung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel mit (1999–2005). Zugleich war es für mich ein Zurückkommen, denn ich war zuvor sieben Jahre (1992–1999) Assistent am Institut für Philosophie und habe auf dieser Stelle habilitiert, was mich auch in der Wolfenbütteler Amtszeit regelmäßig zur Lehre nach Leipzig führte.
Die Universität Leipzig suchte 2005 einen Bibliotheksdirektor mit hoher wissenschaftlicher Qualifikation, was ich im Rückblick als unglücklich betrachte und für die Zukunft nicht empfehle. Wenn ich selber Glück auf dieser Stelle hatte, dann aufgrund von Managementkompetenz und Führungs- ebenso wie Teamfähigkeiten. Ich schreibe das hier nicht als erfüllte Qualitäten auf – ich habe mich darum bemüht, sage ich ehrlicher –, sondern weil damit die Anforderungen an den Beruf einer Bibliotheksleitung umrissen werden können. Eine Universitätsbibliothek ist ein hochgradig komplexes Dienstleistungsunternehmen mit einem großen Bedarf an IT: Medien werden heute überwiegend digital geliefert, bezahlt, katalogisiert und in den Nutzungsmodalitäten definiert. Dieser Wandel vollzog sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr beschleunigt, und die UB Leipzig hat gründlich alle Aspekte der bibliotheksspezifischen Digitalisierung analysiert und einige davon aktiv zu eigenen Aufgaben umdefiniert.
Als ich mich 2005 dem Bewerbungsgespräch stellte, lernte ich Charlotte Bauer kennen und wusste gleich: Nicht nur ist diese Bibliothek reich an Kulturschätzen, sie hat auch eine Person an der Spitze, mit der zusammenzuarbeiten das Glück meiner Bibliotheksjahre in Leipzig vollkommen machen würde. So war es dann.
Die Komplexität der Aufgaben – Beratung vielfältiger Art beim Neu- oder Umbau von Standorten, Auswahl des Personals im Blick auf Aufgaben, die noch in keinem Ausbildungsplan vorgesehen waren, Vereinheitlichung und Erweiterung der Dienstleistungen, Schaffung eines persönlich stimulierenden und wirklich konstruktiven Arbeitsklimas – hat Charlotte Bauer nie geschreckt, und alle rund um sie herum haben ebenfalls die Angst vor dem Neuen verloren.
Stark geprägt ist die Arbeit an der UBL durch Projekte. Projekt- und Bibliotheksarbeit scheinen sehr verschieden und sind es in vielen Belangen auch. Wenn aber eine Dienstleistungseinrichtung für Studium und Forschung sich nach vorne bewegen will, braucht sie Projektideen und -vorhaben. Rund 80 größere Drittmittelprojekte wurden in den vergangenen sechzehn Jahren durchgeführt, mit Laufzeiten von zwei bis zehn Jahren. Über 40 Projektanträge wurden allein durch die DFG bewilligt, dazu kamen Zusagen europäischer EFRE-Mittel sowie vieler anderer Stiftungen und Stellen. Die Tätigkeitsberichte der UBL weisen die Fülle und Verschiedenheit der Vorhaben aus. Projekte bringen Menschen mit Erwartungen und Ideen ins Haus, sie fördern die Diskussion um das, was sich umsetzen lässt und was vielleicht der Stoff für neue Projekte ist. Meine Erfahrung der vergangenen Jahre sagt, dass der Gewinn solcher Arbeit in der Bibliothek nicht nur im Ergebnis besteht (Erschließung, Katalogisierung, Edition, Software, Arbeitsumgebung etc.), sondern auch in der produktiven Unruhe, die die Durchführung mit sich bringt.
Soweit das Allgemeine zur Arbeit in der Bibliothek, das ich hier abkürzen muss, wie sehr es mich auch drängt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu danken, die das alles gewollt, getragen und umgesetzt haben. Projektförmige Arbeit, auch solche ohne Drittmittelunterstützung, ist immer gemeinsame Arbeit. Ich will hier nur einige mir besonders bemerkenswerte Vorhaben herausheben. Dazu zählen die digitale Edition des Codex Sinaiticus, gemeinsam unternommen mit Bibliotheken in London, St. Petersburg und dem Katharinenkloster auf dem Sinai; die digitale Edition des Papyrus Ebers im Format IIIF mit Übersetzungen ins Deutsche und Englische; das Portal zu den islamischen Handschriften; das Projekt zum Verhältnis von Buchkultur und Mikrobenkultur. Digital ist die UBL, glaube ich sagen zu können, den Ansprüchen ihrer hochkulturellen Schätze nahezu gerecht geworden.
Aus Wolfenbüttel kannte ich die stark forcierte Ausstellungskultur als bibliothekarische Vermittlungstätigkeit. Für deren Leipziger Umsetzung habe ich am Haus viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter gefunden. So konnten wir von 2006 bis 2022 über 50 Ausstellungen realisieren, 35 davon mit Katalog, manche davon mehrsprachig. Die Bibliotheksmagazine geben ohne Ende überraschende Funde preis. Das war so bei meiner ersten selbst kuratierten Ausstellung zur Geschichte der Enzyklopädien, die 2006 zugleich meine Amtseinführung war, und das ist so bei meiner letzten Ausstellung, die ich mit Studierenden der Kulturwissenschaft als Abschiedsgruß hinterlasse. Ausstellungen bieten bestmögliche Vernetzung der Bibliothek mit Forschenden, sie fördern und fordern das interdisziplinäre Arbeiten. Nach dem Besuch im sehr schönen Ausstellungsraum (neu erbaut 2009) der Bibliotheca Albertina kann man im Vortragssaal Vorträge dazu hören und anschließend im Café Alibi (beide eingeweiht 2015) darüber sprechen. Ausstellungen sind Kommunikationskultur, und dass Charlotte Bauer und ich dafür die baulichen Voraussetzungen mitgestalten konnten, erfüllt mich mit Stolz.
Wenn ich nun Leipzig verlasse, dann trage ich nicht nur die Erinnerung an erfüllte Jahre mit mir, sondern habe auch meine wissenschaftlichen Interessen durch die Arbeit hier verändern lassen. Während meiner Tätigkeit als Bibliotheksdirektor habe ich durchgehend Vorlesungen und Seminare gegeben, zuerst in Philosophie, dann immer stärker in Wissens- und Kulturgeschichte. Zahlreiche Monografien und Aufsätze auf diesen Gebieten haben für mich persönlich immer auch wissenschaftliche Netzwerke aufrechterhalten, hier vor Ort besonders im Institut für Kulturwissenschaften. Künftig wird mich das große Projekt einer Globalgeschichte der modernen Bibliotheken beschäftigen, also solche, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur Magazine, sondern auch Büros und Lesesäle aufweisen. Kurz gesagt: Die Liebe zur Bibliotheksarbeit lässt mich nicht mehr los, und ich denke, das ist auch ein Beweis für den nachhaltigen Eindruck, den die Arbeit an der UB Leipzig auf mich gemacht hat. Ich werde alles und alle hier sehr vermissen.
Im März 2022,
Ulrich Johannes Schneider