Am 12. Mai 2020 hätte ein weiterer Abend der Vortragsreihe zu einzelnen Papyri und Ostraka aus der Universitätsbibliothek Leipzig „Arbeit bezahlt. Sklavinnen frei! Gott verleugnet?“ stattfinden sollen. Wie alle UB-Veranstaltungen im Mai wurde er vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie abgesagt.
Der Referent Tom Seyferth, der im Wintersemester 2019 ein Praktikum an der Papyrus- und Ostrakasammlung absolvierte und nun kurz vor dem Abschluss seines Masterstudiums der Klassischen Philologie, Philosophie und Kulturwissenschaften steht, hat den folgenden Blogbeitrag verfasst und macht schon jetzt neugierig auf den Nachholtermin, den es für seinen Vortrag mit Sicherheit geben wird. Seine Bereitschaft dazu hat Tom Seyferth schon erklärt; danke dafür!
Papyri und Odysseen
Der Leipziger Homer-Papyrus P.Lips. inv. 153
von Tom Seyferth
Diese jüngste Zeit, in denen sich alle Welt in social distancing übt, kann getrost als eine Art Empathietraining für Papyri gesehen werden. Wer glaubt, vier Wochen in den eigenen vier Wänden nur mit Netflix und Webcam zu verbringen, kratze an der eigenen Würde, der möge sich nicht vorstellen, was jedes einzelne antike Dokument erleiden musste, das bis in unsere Tage überdauert hat.
Stumm und in aller Dunkelheit vegetierten zahllose Papyri und Ostraka durch die Jahrtausende unter ägyptischem Wüstensand dahin, bis sie schließlich von ihrem Schicksal des total distancing erlöst, das heißt ausgegraben wurden. Für die Leipziger Bestände trat dies in der Zeit um 1900 ein. Doch auch heutzutage, nach Ausgrabung, Ankauf, Beförderung nach Leipzig, dortiger Sichtung, Katalogisierung, Restaurierung und (mit Glück) Veröffentlichung, erblicken diese Schätze nur selten das Tageslicht. Grund genug, einem besonderen Prachtstück einen kleinen Beitrag zu widmen, auf dass von Einsamkeit zu Einsamkeit eine Brücke entstehe, auf der Zweisamkeit steht.
Der Papyrus mit der Inventarnummer P.Lips. inv. 153 war einmal Bestandteil eines weitaus größeren Textdokuments. Es handelt sich um eine vorder- und rückseitig beschriebene Pergamentseite aus einem Kodex – also einer Art antikem Buchband –, in dem Homers Odyssee niedergeschrieben stand. Wunderbar quadratisch geformte Lettern sind von geübter Schreiberhand flüssig aufs Pergament gebracht worden; der das nunmehr allgegenwärtige Tippen gewohnte Leser staunt, wie eine solche Gleichmäßigkeit ohne Word möglich ist.
Auf der Rückseite fühlt man sich schon eher in heutige autographische Zustände versetzt: Durch Abschürfung ist ein Großteil der ursprünglichen Beschriftung unleserlich geworden. Eine ungelenke Hand versuchte in bestimmt bester Absicht, diesen Mangel zu beheben. Im Vergleich zur Vorderseite kann man diese spitzen Verschlimmbesserungen jedoch nur als Gekritzel bezeichnen. Doch auch dies ist Dokumentengeschichte, die wir hinnehmen, dankbar für jeden Fetzen, der uns im Original noch erhalten ist.
Wie alt dieses Pergament genau ist, lässt sich nur schätzen. Wahrscheinlich ist seine Entstehungszeit im 4. Jahrhundert n. Chr. Man sollte für eine solche Angabe auch zwischen den Zeilen lesen können, am besten mit Lupe: Kleine Akzente (Akute) über einzelnen Buchstaben (meist die drittletzte Silbe) geben Betonungshilfen für Leser, die in der Kunst des Skandierens („Wie trage ich einen Vers im klassischen Versmaß mit seinen Längen und Kürzen vor?“) weniger geübt sind.
Das lässt drei Rückschlüsse zu: Erstens könnte es sich um ein besseres Schulexemplar handeln, in dem Schüler Anweisungen zur richtigen Prosodie vorfanden. Zweitens könnte die Abschrift zu einer Zeit entstanden sein, in der die korrekte griechische Aussprache nicht mehr selbstverständlich war – immerhin befinden wir uns im kolonisierten Ägypten, in dem Griechisch Amtssprache ist. Drittens handelt es sich in keinem der hier vorliegenden Fälle um einen „Iktus“ (ein künstliches Betonungszeichen über einer langen Silbe): Man hat hier in der Tat noch versucht, „quantitierend“ zu lesen, das heißt mit den originalen Längen, Kürzen und tonalen Akzenten des Griechischen, die auch Homer kannte. Lange Silben wurden nicht automatisch betont; diese noch aus dem Lateinunterricht ins Gedächtnis ragende Zähmung der Metrik hat sich erst die Philologie jüngerer Tage ausgedacht.
Selbst nach zwanzig Jahren distancing finden Liebende noch zueinander.
Aber welchen Teil der Odyssee haben wir hier überhaupt vorliegen? Testen Sie Ihr Wissen: In welchem Gesang kommt Odysseus zum Königshaus der Phaiaken? Athenes Rat an ihn war, mit der Königin zu sprechen, um Rat und Hilfe für seine Heimreise zu erhalten. Nach einer kurzen Beschreibung dieser Königin Arêtê folgt eine durchaus epische Beschreibung des hohen Königshauses. Diese Episode der Odyssee ist ein echter Wendepunkt für den Protagonisten, markiert doch die Ankunft bei den Phaiaken das Ende seiner Irrfahrten und das Versprechen des Königspaares, ihn mit einem Schiff nach Ithaka zu befördern. Am Ende steht Odysseus bekanntlich über den Leichen der von ihm ermordeten Freier und wieder bei seiner Penelope.
Dieses Ende hat doch auch für die coronal geplagte Menschheit etwas Tröstliches: Selbst nach zwanzig Jahren distancing finden Liebende noch zueinander. Wenn dann zusätzlich noch ein durch die Geschichte irrlichterndes Stück Literatur seinen Weg zu heutigen Lesern findet, hätte das Homer bestimmt so sehr gefreut, dass er lauthals ausgerufen hätte: „Im siebten!“
Eintrag zum Leipziger Homer-Papyrus P.Lips. inv. 153 im Papyrusportal: https://papyri.uni-leipzig.de/receive/UBLPapyri_schrift_00002480
Herzlichen Dank für diesen lehrreichen wie unterhaltsamen Beitrag. Unbedingt mehr davon auf diesem Blog. Steht schon ein Datum für den Nachholtermin?
Sehr geehrter Herr Möller,
Ihr Kommentar freut mich. Einen neuen Termin haben wir noch nicht bestimmt. Er wird dann über die Website der UB Leipzig bekannt gegeben. Ich kann Sie auch zusätzlich auf diesem Weg informieren.
Viele Grüße
Almuth Märker
Hallo!
Eine kleine Anmerkung: Es handelt sich um ein Pergament. Das steht zwar auch dreimal in dem Tex, dennoch wird ansonsten immer vom „Homer-Papyrus“ geschrieben. 😉 Zudem sprechen wir bei Pergament von Fleisch- und Haarseite, anstatt von Recto und Verso.
Viel Erfolg für die Master-Arbeit!
Viele Grüße,
N. Quenouille.
Danke für den Hinweis. Ich geb ihn weiter.
Viele Grüße, Almuth Märker