Von einem Spin, einer Doppelhelix und einem Bisschen was zu Handschriften

Witzig, wie es das Leben manchmal will, verliefen bereits die Planungen zu unserer Dienstreise keineswegs geradlinig, sondern passend zum Thema in Schleifen. Nun sollte man annehmen, dass Bahnstreiks keinen Anlass mehr für eine zu große Aufregung bieten, auch bei Dienstreisen nicht. Allerdings wollten wir nicht einfach kampflos auf das Auto als Ersatz-Transportmittel ausweichen, da wir bei der Rückreise bis zum Schluss nicht genau wussten, wie sie personell besetzt sein würde.

Nach längerem Hin und Her (Auto – Flixbus – Auto – Zug und wieder Auto) haben wir uns dann also für die Notfallversorgung der Bahn entschieden – ein paar Züge fuhren ja – und haben ein Auto in der Nähe einer strategisch günstig gelegenen Straßenbahnhaltestelle abgestellt. Im Nachhinein erscheint dieser Plan noch unvernünftiger als damals, war doch bis zu unserer Ankunft am Bahnhof nicht klar, ob der im Plan verzeichnete Zug auch wirklich fahren würde. Aber unser (wenig vernunftbegabter) Mut hatte sich gelohnt: Der Zug fuhr. Pünktlich. An das richtige Ziel: Dresden. Erleichtertes Durchatmen.

Diese erste Hürde gemeistert, erreichten wir das Wissenschaftsfestival SPIN 2030, das am 8. und 9. März 2024 in Dresden stattfand. Wir – das waren Matthias Eifler, Christoph Mackert, Felix Schulze und ich – hatten als Mitarbeiter*innen des UBL-Handschriftenzentrums das Glück, die Universitätsbibliothek und somit auch die Universität Leipzig auf diesem Festival (mit-)vertreten zu dürfen (s. auch die Ankündigung der Universität).

Banner Spin 2030

An diesen beiden Tagen tummelte sich in den Dresdner Technischen Sammlungen eine Vielfalt von universitären und außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen aus Sachsen, um ihre Arbeit der breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Es sollten jedoch keine trockenen oder monodirektionalen Einbahnstraßen-Vorstellungen, sondern vielmehr Wissenschaft zum Anfassen, Wissenschaft auf Augenhöhe, zum Mitmachen, zum Selbsterleben sein.

An unserem Zielort angekommen, machte sich dann doch ein wenig Unsicherheit bei uns breit: Was wird genau auf uns zukommen, verirren sich interessierte Besucher*innen auch zu uns, funktionieren unsere Ideen, mit denen wir unsere Forschungsinhalte für unser ‚Publikum‘ erleb- und erfahrbar machen wollen. Und: Können wir die Leidenschaft vermitteln, mit der wir täglich unseren Forschungen nachgehen?

So viel Zeit zum Grübeln blieb allerdings nicht. Gleich nachdem wir unseren Stand vorbereitet, unsere Roll-Ups aufgehängt, unsere Materialien ausgelegt und unsere Film- und Quiz-Sequenzen angeworfen hatten, ging es auch schon los. Permanent schlängelten sich von nun an vor allem interessierte Familien, in der Regel Eltern mit ihren Kindern im Grundschulalter, durch die Gänge und über die verschiedenen Ebenen des Geländes. Vertreten waren auch Studierende, die vielfältig interessiert waren, oder Senior*innen, die sich entweder von völlig unbekannten Wissenschaftsgebieten beeindrucken ließen oder die überprüfen wollten, wie sich Gebiete, in denen sie einst arbeiteten, methodisch und/oder technisch weiterentwickelt haben.

  • Spin 2030 in Dresden (8./9. März 2024)

Wir als Handschriftenzentrum wollten den Besucher*innen dabei die Besonderheiten von mittelalterlichen Handschriften vorführen und mitunter auch gemeinsam erforschen: Wie zum Beispiel, dass diese Bücher nicht wie heutige Bücher ein Titelblatt oder Impressum haben, das genaue Auskunft über Entstehungsjahr und -ort, über Autor*innen oder über enthaltene Texte gibt, sondern dass wir all diese Informationen wie in einer Spurensuche oder einer detektivischen Reise mit der Handschrift erheben müssen.

YouTube-Film ‚Handschriften verstehen lernen mit dem Leipziger Handschriftenzentrum‘

Unser Ziel war es, die Forschungsarbeit zu demonstrieren, wenn wir die Handschriften nicht nur lesen, sondern als einzigartige historische Objekte verstehen wollen. Über die Schrift, über den Buchschmuck – zum Beispiel über ausgeschmückte Initialen oder Zeichnungen – oder bei Papierhandschriften über die Wasserzeichen können wir Informationen über den Entstehungsort und -zeit einer mittelalterlichen Handschrift erschließen. Über spätere Bindungen oder Besitzeinträge können wir die Provenienzgeschichte eines Buches nachzeichnen. Wir wollten auf dem SPIN 2030-Festival aber ebenfalls gemeinsam mit den Besucher*innen durchspielen, wie sehr wir in unserer täglichen Arbeit auf digitale Hilfsmittel zurückgreifen, darunter spezifische Datenbanken oder Webportale.

Rep. II 21 im Handschriftenportal

Hier ist natürlich zuvorderst das Handschriftenportal (HSP) mit seinen umfangreichen Recherchemöglichkeiten und seinen virtuellen Arbeitsumgebungen zu nennen, in denen wir Handschriften durchblättern und problemlos mit Handschriften aus anderen Sammlungen vergleichen können. Immer häufiger spielen Verfahren der digitalen Fotografie (samt Multispektraltechnik), der Text- bzw. Schrifterkennung und künftig sicherlich auch naturwissenschaftliche Methoden eine Rolle.

Klar, trotz der Verbindung von Mittelalter und Technik entsprachen wir mit unserem Stand nicht ganz dem Mainstream des Festivals. Die rein naturwissenschaftlichen und technischen Projekte dominierten deutlich das Feld. Aber sehr bald fanden wir, dass wir durch unsere ‚besondere‘ Ausrichtung eine wichtige Ergänzung zum vor allem technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Festivalprofil bilden, die Digital Humanities und deren Potentiale vorstellen und vermitteln konnten. Angesichts der wirklich breiten Resonanz, der vielen interessierten Fragen und Gespräche haben wir uns dann mehr als richtig an unserem Platz gefühlt.

  • Spin 2030: Besucher*innen am Stand des Handschriftenzentrums

So waren wir, sobald wir unser Quiz zu den Schriften des Mittelalters gestartet hatten, in kürzester Zeit von zahlreichen hochmotivierten Kandidat*innen umringt. Eine der Aufgaben war es, unterschiedliche Erscheinungsformen des kleinen a und des kleinen g aus dem 8.–16. Jh. in die richtige chronologische Reihenfolge zu bringen. Wir haben in diesem gemeinsamen ‚Spiel‘ versucht zu demonstrieren, dass Buchstaben sich über die Zeit hin verändern: In einer frühen Zeit (im 9. Jh. etwa) war der untere Bogen des g geschlossen und ‚dickbauchig‘, in einer späteren Zeit (insbesondere im 14. Jh.) ist er kurz, häufig in die Mittelzone gezogen und nahezu ‚verkümmert‘. Wer von den Teilnehmer*innen wollte, bekam einen kleinen Spickzettel, witzigerweise wollten es doch auch sehr viele ohne bzw. nur mit unserer menschlich vermittelten Hilfe probieren.

Quiz zur Paläographie (Wie alt ist die abgebildete a-Minuskel?)


Beim Lesen von mittelalterlichen Texten haben wir übrigens die Erfahrung gemacht, dass Kinder, bei denen der Schriftspracherwerb noch nicht so weit entfernt lag, besonders gute Handschriftenbearbeiterinnen sind. Wahrscheinlich, weil sie es (noch) gewohnt sind, die einzelnen Buchstaben zu sehen, zu erkennen und anschließend zusammenzuziehen und dabei nicht so sehr auf das schnelle Erfassen des ganzen Wortes konzentriert sind, haben sie Wortgruppen und Sätze erstaunlich flüssig ‚heruntergelesen‘. Wir waren begeistert!

Lesetext ‚Annaberger Predigtexempel‘ von um 1200

In der Rückschau bleibt eine vielfältig bereichernde Erfahrung in Erinnerung: wie sehr die Besucher*innen (positiv) darüber erstaunt waren, was wir machen, welcher Methoden wir uns dafür bedienen und welch großer Erkenntniswert in unserer Arbeit liegt. Auch wenn eventuell nicht alle Besucher*innen bisher Kontakt mit der Welt der mittelalterlichen Handschriften hatten, so brachten sie großes Interesse dafür mit, sie haben Fragen gestellt, Anmerkungen und Ideen eingebracht, haben Bedeutung und Probleme wahrgenommen und uns damit insgesamt andere Perspektiven auf unsere eigenen Inhalte vermittelt. – All das, weil und indem wir miteinander ins Gespräch gekommen sind oder kommen konnten.

Im Kleinen nun passt unser Erlebnisbericht vom Spin 2030 vielleicht sehr gut zur vor kurzem gestarteten Kampagne WEITER WISSEN. Der eine oder die andere ist möglicherweise bereits auf ihr charakteristisches Bildmotiv gestoßen: eine Art Doppelhelix schlängelt sich über den Bildausschnitt, in ihr ist die Wortgruppe WEITER WISSEN eingeschrieben.

  • Slider der UBL-Startseite

Mit der Kampagne soll die „gesellschaftliche Relevanz“ wissenschaftlicher Bibliotheken deutlich, ihre „Aufgaben, Funktionen und vielfältigen Leistungen“ in ihrer Bedeutung für Forschung und Wissenschaft sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden (vgl. Pressemitteilung des Deutschen Bibliotheksverbands [dbv] vom 22.1.2024). Adressat*innen sind dabei sowohl die breite Öffentlichkeit, als auch Entscheidungsträger*innen in Politik und Kultur, der Wissenschaftscommunity und der einschlägigen Fördereinrichtungen. Ziel ist es, dass Forschungsbibliotheken – wie beispielsweise die UB Leipzig eine ist – auch in der Zukunft weiter bestehen und ihren vielfältigen Aufgaben und damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen können. Die Kampagne gliedert sich in Unterkampagnen, die sich auf Open Access, Forschungsdatenmanagment, kulturelles Erbe, digitale Langzeitarchivierung sowie Forschung und Entwicklung beziehen. Was jetzt mehr als nachvollziehbar aber vielleicht etwas abstrakt erscheint, könnte im Konkreten folgendermaßen lauten:

Für uns Mitarbeiter*innen am Handschriftenzentrum ist es Teil der täglichen Arbeit, dass wir beispielsweise zusammen mit Digitalisierung, Restaurierung, dem Bereich der technischen Infrastruktur oder auch der Anwendungsentwicklung unser kulturelles Erbe in Form von Handschriften bewahren und es gleichzeitig für eine wissenschaftliche Erarbeitung vor allem auch digital zur Verfügung stellen. Gemäß den Leitlinien der Kampagne sollten Vermittlung und Transparenz zu unseren Aktivitäten mitgedacht werden, um Relevanz zu unterstreichen und ein Weiterbestehen zu sichern. 

Für den Bereich des Kulturerbes stellt sich neben den bereits aufgeworfenen allerdings noch eine ganz spezielle weiterführende Frage, nämlich die nach dem Nachwuchs: zum einen, als Kundschaft, die an den Resultaten von Forschungsarbeit einerseits und forschungsnahen Dienstleistungen andererseits überhaupt interessiert ist; zum anderen als Akteure, die mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet sind, um das bewahrte Erbe ‚lesen‘ und mit ihm umgehen zu können. Gerade beim Spin, wo uns so viele interessierte Kinder im Grundschulalter begegnet sind, hat sich die Bedeutung des Nachwuchses noch einmal ganz anders und unmittelbar gezeigt. Vielleicht waren unter Ihnen ja künftige Handschriftenforscher*innen und Mediävist*innen.

Für den etwas älteren, in diesem Fall für den akademischen Nachwuchs können wir übrigens auf eine weitere Veranstaltung an der UB Leipzig hinweisen: unseren Alfried Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur. In diesem September (15.–21.9.2024) dürfen wir bereits in die 9. Auflage des Kurses gehen. Der durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und den Mediävistenverband e.V. geförderte Kurs „Mittelalterliche Handschriften verstehen lernen“ soll eine Einführung in die vielseitige Arbeit mit mittelalterlichen Handschriften bieten, sowohl durch Lehreinheiten mit mediävistischen Fachleuten als auch durch praktische Übungen und intensive Arbeit an den Originalen. Vor allem soll er aber Appetit und Lust auf mehr machen!

Alle Fotos, soweit nicht anders angegeben von: Leipzig, Universitätsbibliothek Leipzig, Katrin Sturm

Katrin Sturm

Katrin Sturm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum an der Universitätsbibliothek Leipzig.

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