Luise Tönhardt war von September 2016 bis Dezember 2019 Hilfskraft am Handschriftenzentrum Leipzig und arbeitet heute in Berlin am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in der Öffentlichkeitsarbeit. Ihr Beitrag ist Teil der Blogserie zu 20 Jahre Leipziger Handschriftenzentrum.
Ich starre auf das Papier und bin ratlos. „Tochter Zion“?! Wie soll ich das pantomimisch darstellen? Zu diesem Zeitpunkt hat die Weihnachtsfeier des Handschriftenzentrums Leipzig ihren Höhepunkt erreicht, denn wir spielen traditionell wie jedes Jahr Scharade, die Stimmung ist aufgeheizt und ich hätte wissen können, dass der Oberbegriff „Weihnachten“ in einer Runde von Mediävist*innen, Altphilolog*innen und (Kunst-)Historiker*innen weit über „Lebkuchen“, „Tannenbaum“ und „Schlittenfahrt“ hinausgeht.
Impressionen vergangener Weihnachtsfeiern (2016-2019)
Auf ein Papier starren und erst einmal ratlos sein, scheint mir rückblickend fast programmatisch für meine Arbeit als Studentische Hilfskraft am Handschriftenzentrum. Anders als beim kompetitiven Scharade-Spiel gibt es hinter der grauen Sicherheitstür im 4. OG der Albertina aber nur ein Team und das hat große Freude am Rätseln.
Meine erste Beschäftigung mit den Handschriften begann mit ihren Wasserzeichen. Die kannte ich glücklicherweise schon, denn ich hatte früher eine Buchbinderlehre gemacht und gerade ein buchwissenschaftliches Masterstudium begonnen, was seinen Fokus jedoch stärker auf die Zensurgeschichte der DDR legte als auf die „früh“-historischen Bestände der Universitätsbibliothek. Ich wusste also, wie Wasserzeichen zustandekommen und dass man sie durch Abreiben mit Graphitstift sichtbar macht.
Ihre Bedeutung ging mir aber erst im Verlauf meiner Arbeit auf: Dass sie ein wichtiger Schlüssel beim Datieren und Lokalisieren einer Handschrift sind, was im Kolleg*innenkreis des Handschriftenzentrums mit detektivischer Akribie und im konstruktiven Wettstreit betrieben wird. Dass das sogenannte Abnehmen – also Abzeichnen und Durchpausen der Wasserzeichen mittels Pergamentpapier und einer Leuchtfolie, die behutsam zwischen die Seiten der Handschrift gelegt wird – ein Prozess ist, bei dem man manchmal an seiner Sehkraft zweifelt. Dass man am Ende mit einer Menge dünner Blätter dasteht, auf denen entweder Ochsenköpfe oder scheinbar fantastische Figuren, oft aber auch einfach nur kryptische Linien und Kringel zu sehen sind, und dass man nach der Bestimmung der Motive und Entstehungsdaten mittels Datenbanken und Verzeichnissen das Gefühl hat, der ehrwürdigen Handschrift ein weiteres kleines Geheimnis entlockt zu haben – das wusste ich alles nicht.
Offen gestanden hatte ich keine Ahnung von mittelalterlicher Buchgeschichte, als ich meine Tätigkeit im Handschriftenzentrum begann, und in meiner Vorstellung musste ein Forschungsalltag, der sich mit jahrhundertealten Büchern beschäftigt, eher trocken und schweigsam sein. Umso mehr erstaunte mich das gemischte Team aus jungen und erfahrenen Wissenschaftler*innen mit ihrem Enthusiasmus für Handschriften aus Frauenklöstern, mit liturgischen Werken oder medizinischen Rezeptsammlungen.
Ein weiteres Mal starrte ich ratlos auf Papier, als ich begann, im Preprocessing für verschiedene Handschriftendigitalisierungsprojekte (z. B. von 110 mittelalterlichen Handschriften der UBL) zu arbeiten. Eine Mammutaufgabe, die sich über Jahre zieht und kürzlich in einem Video (Link Youtube-Video) sehr schön dargestellt wurde. Das Leipziger Handschriftenzentrum konvertiert nicht nur den eigenen Bestand in unzählige Megabyte an Bilddaten, sondern auch die Klein- und Kleinstbestände mitteldeutscher Klöster und Sammlungen. Eine Dienstleistung, die im Team als große Bereicherung für die Forschung wahrgenommen wird – und von der Forschung ganz sicher ebenso.
Zu Beginn des Digitalisierungsworkflows, dem Preprocessing, steht der sogenannte Foliierungscheck, der viel mehr ist als eine Durchsicht der Blattzählung (= Foliierung): Die Handschrift wird Seite für Seite samt ihrem Einband eingängig auf Schäden untersucht, damit sich diese im Digitalisierungsprozess nicht verschlimmern, sondern gegebenenfalls von den Kolleg*innen in der Restaurierungswerkstatt vorher behoben oder in ihrem aktuellen Zustand gesichert werden können. Jede Seite drehte ich eben mehr oder weniger ratlos um: War dieser Riss im Pergament schon in der Haut gewesen oder wächst er gerade durch die spröde Seite? Ist diese tiefschwarze Letter ein Hinweis auf Tintenfraß oder ein Ausrutscher der Feder? Stimmt die Seitenzählung? Benötigt dieser Buchschmuck eine besondere Beleuchtung beim Fotografieren? Mit jeder umgeschlagenen Seite schwand die Ratlosigkeit, der Blick schärfte sich und ich musste mir weniger oft Rat bei den erfahreneren Kolleg*innen holen.
Oftmals kam es vor, dass Katrin Sturm, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum und für uns Hilfskräfte erste Ansprechpartnerin, zufällig vorbeikam, mit den Worten „Die kenn ich!“ stehenblieb und aus dem Stegreif mehr von der Handschrift zu erzählen wusste, als ich mir – ohne Lateinkenntnisse – jemals hätte erschließen können. Nach und nach verstand ich den Aufbau einer Handschrift, ihre historische Verwendung und Benutzung, konnte gotische Textura und karolingische Minuskel lesen (und lernte sie später in einem Workshop auch zu schreiben) und Buchschmuck zuordnen.
Meine studentischen Kolleg*innen waren derweil damit befasst, Digitalisate zu prüfen und in das Online-Präsentationssystem der Universitätsbibliothek einzugeben, damit sie dort innerhalb der Digitalen Sammlungen der ganzen Welt zugänglich sind.
Manchmal konnte man den Eindruck bekommen, ein ganzes Büro voller Heinzelmännchen zu beobachten, die tagein, tagaus, Hand in Hand den großen Berg der Handschriften, die der Welt eher noch unbekannt sind, Stück für Stück abtragen und sie zusammen mit den in ihnen enthaltenen Werke online zugänglich machen: indem sie Band um Band aus dem Tresor holen, durch den Digitalisierungsprozess schleusen und letzten Endes inhaltlich für die Forschungsgemeinschaft und Lehre erschließen. Zeitweise gab es bis zu 15 Hilfskräfte mit unterschiedlichen Kompetenzen und Aufgaben, dazu Praktikant*innen verschiedener Studiengänge, die im Handschriftenzentrum „hands on“ in die Arbeit mit historischen Quellen eingeführt wurden.
Viele meiner studentischen Kolleg*innen ließen das Wissen, das sie durch die eigene Beschäftigung mit der Materie und in Gesprächen mit den Wissenschaftler*innen gewinnen konnten, in spätere akademische Arbeiten einfließen. Dieser beständige Strom an Nachwuchskräften entsteht auch, weil Christoph Mackert und Katrin Sturm es immer wieder schaffen, neue, aufgeschlossene, engagierte junge Menschen zu rekrutieren, die ihren Platz im Team schnell finden. Ihre verschiedenen Stärken und Vorkenntnisse führten oft zu Synergieeffekten, die ich sowohl menschlich als auch auf fachlicher Ebene als sehr bereichernd empfunden habe. Teamarbeit wird im Leipziger Handschriftenzentrum großgeschrieben und das macht sich auch am wissenschaftlichen Output bemerkbar.
Mir persönlich hat die Tätigkeit am Handschriftenzentrum Leipzig eine ganz neue Perspektive auf wissenschaftliches Arbeiten eröffnet, welches viel näher an der Materie und viel stärker im Austausch ist, als ich es bisher kannte. Mitzuerleben, wie der Spagat zwischen historischen Beständen und modernen Datensätzen gelingt, hat mich nicht nur meiner Vorurteile vom trockenen Forschungsalltag beraubt. Digitale Technologien fügen der historischen Forschung eine neue Ebene hinzu, die die Arbeit in Bibliotheken, Sammlungen und Archiven abwechslungsreicher und attraktiver macht.
Das Besondere des „HSZ“ und seinen nunmehr 20 Jahren ist meiner Meinung nach nicht allein die Expertise der Kolleg*innen, sondern auch die Freude und Dankbarkeit, sich gemeinsam im Team immer neuen Handschriftenprojekten widmen zu können, gepaart mit dem Ehrgeiz, Bestände für die internationale Forschungsgemeinschaft in einer richtungsweisenden Qualität zu erschließen. Ich wünsche deshalb allen ehemaligen Kolleg*innen, dass dieser Geist anhält und noch weitere Generationen an Forscher*innen hervorbringt, bis auch der letzte Ochsenkopf bestimmt und alle Schätze gehoben und der Welt zugänglich gemacht worden sind. Bei der nächsten Weihnachtsfeier-Scharade war das Thema übrigens „Märchen“ und ich konnte in einer vertrauteren weiblichen Rolle – als Frau Holle – Punkte holen.