­10 Jahre linguistisches Wissen für alle

Der linguistische Open-Access-Verlag Language Science Press feiert 2024 sein zehnjähriges Bestehen. Gegründet wurde der Verlag von Prof. Stefan Müller von der Humboldt-Universität Berlin und Prof. Martin Haspelmath vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und der Universität Leipzig. Aktuell wird der Verlag von Prof. Müller sowie von Prof. Oliver Czulo von der Universität Leipzig geführt. Die Universitätsbibliothek Leipzig unterstützt seit 2018 die kooperative Finanzierung des community-basierten Verlags Language Science Press.
Anlässlich des runden Jubiläums hat Stefan Müller für uns die Geschichte der Gründung aufgeschrieben und gibt Einblicke in den Arbeitsalltag eines gemeinnützigen Open-Access-Buchverlags.


1999 wollte ich meine Dissertation veröffentlichen. Ich hatte von 1994 bis 1999 an dem Projekt Deutsche Syntax deklarativ gearbeitet und die jeweils aktuellen Versionen der Dissertation waren im Netz verfügbar. Dort hatte sie ihre Leser*innen gefunden bzw. die Leser*innen hatten mein Buch gefunden. Weil das für Dissertationen so verlangt wird, in den Promotionsordnungen und auch in Bewerbungsverfahren, wollte ich meine Dissertation auch im klassischen Sinn per Verlag veröffentlichen. Ich brauchte einen anerkannten Verlag und eine gute Buchreihe.

Ich hatte mich anfangs darüber gefreut, dass die Linguistischen Arbeiten, die damals noch vom Max Niemeyer Verlag herausgegeben wurden, mein Werk annahmen. Leider bedeutete das aber nicht die Veröffentlichung meines Buches, sondern die Entöffentlichung. Der Preis für das Buch betrug unglaubliche 186 DM (= 95,10 €, inflationsbereinigt jetzt 150 €). Für ein Buch, an dem der Verlag außer einer Runde Korrekturlesen nichts gemacht hatte, war das ein sehr stolzer Preis. Den Drucksatz hatte ich komplett selbst gemacht. Jetzt musste ich das Buch plötzlich von der Webseite nehmen. Es war zwar über Bibliotheken erhältlich, aber das ist kein Vergleich zur Zugänglichkeit einer PDF-Datei im World Wide Web.

Ein kleiner Schritt für ein Buch …

Meine Habilitationsschrift war auf Englisch abgefasst und erschien bei CSLI Publications zu einem vernünftigen Preis. Spätere Bücher wollte ich dann Open Access und als Print-Version in einem No-Name-Verlag veröffentlichen. Frau Narr vom Stauffenburg-Verlag riet mir ab und überredete mich, bei ihr zu veröffentlichen, was ich auch tat, aber unter der Bedingung, dass ich die Bücher auch bei mir auf der Webseite als PDF anbieten durfte. Damit hatte ich mein Publikationsproblem so einigermaßen gelöst, aber das generelle Problem der Publikation war immer noch vorhanden: Die Bücher anderer Autor*innen waren ja in dieser Form nicht erhältlich.

„Die meisten Wissenschaftsverlage taten
nichts für ihre Autor*innen, nein, sie störten sogar.
Der Profit der Veröffentlichungen landet
allerdings bei den Verlagen.“

Die meisten Wissenschaftsverlage taten nichts für ihre Autor*innen, nein, sie störten sogar. Wenn sie Satzarbeiten an externe Dienstleister vergaben, kamen völlig zerstörte Druckfahnen zu den Autor*innen und Herausgeber*innen zurück. Die Herausgeber*innen des Handbuch Semantik, das bei De Gruyter erschienen ist, können ein Lied davon singen. Lieder. Leider. Bei der Semantik geht es mitunter um komplexe Formeln. Wenn diese von Nicht-Fachkräften neu gesetzt werden, kommt hinterher Unverwendbares heraus. Das zu reparieren, kostet teure Wissenschaftler*innenzeit.

Der Profit der Veröffentlichungen landet allerdings bei den Verlagen. Um die Margen zu steigern, werden die Bücher zu Preisen verkauft, die die Anschaffung durch Privatpersonen nahezu ausschließen. Einspringen muss der Staat, allein Deutschland gibt Unsummen für die Beschaffung wissenschaftlicher Literatur für seine Bibliotheken aus.

Das war die Ausgangslage in der Zeit 1999 bis 2012. Dazu kam eine Konzentration im Verlagswesen (De Gruyter kaufte Niemeyer, den Akademie-Verlag, Oldenburg, …), die die Verhandlungsbasis bei Preisen für die staatliche Seite verschlechterte.

… ein größerer Schritt für die wissenschaftliche Publikationstradition

Foto von Jacek Dylag auf Unsplash

Im Juni 2012 gab es ein Treffen mit Adele Goldberg, Thomas Herbst und Anatol Stefanowitsch. Bei einer kühlen Apfelsaftschorle sprachen wir über die Situation. Zu der Zeit wurde gerade ein Print on Demand-Service von Amazon eingerichtet. Das war der Auslöser, der mich bewog, den Versuch zu starten, die Publikation linguistischer Arbeiten selbst zu übernehmen.
Im August 2012 stellte ich die OALI-Webseite ins Netz (OALI = Open Access in Linguistics). Ich schrieb über 100 Emails an prominente Kolleg*innen und bat sie um Unterstützung. Die Unterstützer*innen konnte man auf der Webseite sehen.

Auch im August 2012 traf ich mich mit Martin Haspelmath, weil ich mich daran erinnert hatte, dass er schon sehr viel früher (2004) eine Mail an die LinguistList-Mailingliste geschrieben hatte. Wir sprachen alles durch und verstanden uns gut. Im Oktober 2012 gab es dann, ebenfalls an der Freien Universität Berlin, das Kick-Off-Treffen für OALI. Dieses fand unter internationaler Beteiligung statt – damals mit Skype. Anke Lüdeling und Gereon Müller waren dabei, und die FU-Linguistik natürlich auch.

Neben der Unterstützung ganz vieler Menschen gehört auch viel Glück zur Gründung eines community-basierten Open-Access-Verlages.

Passierschein A38

Gerade in der Zeit, in der wir begonnen hatten, den Verlag aufzubauen, legte die DFG ein Förderprogramm Wissenschaftliche Monographien und monographische Serien im Open Access auf. Ziel des Programms war es, ein tragfähiges Geschäftsmodell für Open-Access-Monographien zu entwickeln. Die Ausschreibung war explizit auch an existierende Verlage gerichtet. Der schwierigste Teil in dieser Zeit war eigentlich die Wissenschaftspolitik an der FU. Martin Haspelmath und ich hatten den Antrag fertiggestellt. Es hatte diverse Gespräche in der FU gegeben, und wir wollten den Antrag einreichen, als mir gesagt wurde: „Sie dürfen den Antrag nicht stellen!“ Ich kann mich noch genau erinnern: Es war wie ein Schlag vor den Kopf. Wir hatten alles fertig. Ich hatte ein Jahr gearbeitet. Hunderte Mails geschrieben. Und nun? Was war los?

Foto von Brandon Morgan auf Unsplash

Jemand mit anderen Zielen versuchte, die Antragsstellung zu verhindern. Zum Glück konnte ein Kollege, der vorher jahrelang im Präsidium der FU gewesen war und noch über die notwendigen Kontakte verfügte, ein Gespräch mit dem Präsidium organisieren. Ich beschrieb die Lage und erklärte, dass das Projekt so weit fortgeschritten sei, dass ich es unmöglich stoppen könnte. Wenn wir den Antrag nicht stellen könnten, müssten wir das alles ohne Geld machen. Der Kanzler meinte dazu, dass es ja ökonomisch unsinnig wäre, wenn sein Professor diese Arbeiten erledigen müsste, denn der sei dafür ja viel zu teuer. So konnten wir den Antrag doch noch stellen.

Es kann losgehen!

Es gab 17 Anträge bei der DFG, zwei wurden gefördert. Einer davon war der für die Gründung von Language Science Press. Wir bekamen 575.000 € für zwei Jahre. Das waren 72 % der Gesamtfördersumme. Die Finanzierungszusage kam im Dezember 2013. Martin Haspelmath kannte Sebastian Nordhoff, der bei ihm gearbeitet hatte und sich sowohl mit LaTeX, Datenbanken und Web-Programmierung auskannte. Dieser hatte gerade ein Angebot von einer Startup-Firma, die aber klamm war und den Vertrag mit ihm noch nicht unterschrieben hatte. Ein weiterer Glücksfall. Er fand unser Projekt viel cooler als die Firma, so dass er dann im Februar 2014 bei uns anfing. Ohne ihn wäre Language Science Press heute nicht das, was es jetzt ist.

DOI: 10.17169/FUDOCS_document_000000019858

Da wir ja schon in der Zeit vor Beginn des DFG-Projekts aktiv gearbeitet hatten, waren die ersten Buchreihen bereits etabliert und die ersten Bücher fertig. Diese wurden dann vor zehn Jahren auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft 2014 veröffentlicht. Gemeinsam mit Sebastian stellten wir die Mitarbeiter*innen für das Projekt ein. Wir passten die Publishing-Software für den Web-Auftritt an (Open Monograph Press), erstellten LaTeX-Stile und arbeiteten das Geschäftsmodell aus.

Nach Projektabschluss wechselte ich 2016 an die Humboldt-Universität. 2017 gründete sich Language Science Press aus und ist seitdem eine gemeinnützige UG, auch weil die gesamte Verwaltung über eine Universität viel zu unflexibel ist.

Im produktiven Alltag angekommen

In der gUG gibt es einen Geschäftsführer (Sebastian Nordhoff) und einen halben Mitarbeiter sowie bezahlte studentische Hilfskräfte. Die benötigten Gehälter und Festkosten (Miete, technische Geräte) werden von institutionellen Unterstützer*innen bezahlt, die damals 1.000 € pro Jahr für 33 Bücher bezahlt haben. Um arbeiten zu können, braucht der Verlag pro Sammlungsrunde etwa 100 Zusagen. Dabei werden Finanzierungszusagen für insgesamt drei Jahre gemacht, von Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und von anderen öffentlichen oder gemeinnützigen Körperschaften. Privatspenden und andere Einnahmen machen nur einen sehr kleinen Anteil der Finanzierung aus. Die Anwerbung dieser Unterstützer*innen erfolgt gemeinsam mit Knowledge Unlatched.

Inzwischen sind wir im dritten Finanzierungszyklus. Die Einwerbung von Zusagen war im ersten Zyklus wesentlich aufwendiger als im zweiten, aber wir hatten auch prominente Unterstützung wie zum Beispiel von Noam Chomsky, Steven Pinker und Adele Goldberg. Mittlerweile ist der Verlag gut etabliert und statt intensiver Überzeugungsarbeit reicht normalerweise ein kleiner Stupser, um die Verlängerung unter Dach und Fach zu bringen.

Ein echtes Gemeinschaftsprojekt

Foto von Tim Marshall auf Unsplash

Damit Language Science Press funktioniert, arbeiten wir eng mit der linguistischen Wissenschaftscommunity zusammen. Ist ein Beitrag begutachtet und von den Reihenherausgeber*innen an den Verlag weitergeleitet worden, wird er zum Korrekturlesen für die Gemeinschaft auf Paperhive veröffentlicht. Die Beteiligung ist dabei durchweg gut. Der wissenschaftliche Beirat entscheidet über die Annahme neuer Buchreihen und auch sonst kommen immer wieder Impulse für die Arbeit bei Language Science Press. Einmal im Jahr treffen sich außerdem die Herausgeber*innen der Reihen, werden über aktuelle Entwicklungen informiert und können ebenfalls Ideen und Wünsche einbringen.

Der Austausch ist regelmäßig und kollegial. Mal gibt es ruhigere Phasen, dann wiederum auch mal Phasen größerer Aktivität. Das meiste wird allerdings von den Mitarbeitern der gUG aufgefangen, ohne die das Projekt nicht denkbar wäre. Es braucht zwar immer einen Funken, der ein solches Feuer entzündet, aber um es weiterzutragen, braucht es viele.


CC-BY Daniel Gutzmann

Wir gratulieren Language Science Press zu seinem 10-jährigen Bestehen und wünschen ihm auf seinem visionären Weg zur Förderung einer inklusiven wissenschaftlichen Welt weiterhin inspirierenden Erfolg und wegweisende Entwicklungen!

Und falls Sie Appetit auf die Gründung eines Open-Access-Verlages bekommen haben, das passenden Kochbuch dazu gibt es von Language Science Press ebenfalls: DOI 10.5281/zenodo.1286924 .

Adriana Slavcheva (UBL)

Dr. Adriana Slavcheva ist an der Universitätsbibliothek Leipzig Open-Access-Referentin im Open Science Office sowie Fachreferentin für Kommunikations- und Medienwissenschaften.

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