Jörg Graf ist an der Universitätsbibliothek Leipzig Leiter der Restaurierung.
Zwischen Sandschichten das Leben der Zeit lesen
Mit dem ersten Satz für diesen Beitrag habe ich mich recht schwergetan. Es gibt so viel zu berichten und gerade deshalb fällt es schwer zu beginnen. Doch dann begegnet mir in der Wochenzeitung ,,Die Zeit‘‘ die wunderschöne Textzeile mit den Worten ,,eine Bibliothek des Lebens‘‘. Diese Worte beschreiben am besten, warum ich für 12 Tage nach Ägypten reisen durfte. Eine Reise von der Universitätsbibliothek Leipzig in eine andere Art von Bibliothek, nämlich in die spätantike, koptische Klosteranlage Deir el-Bachit in Theben-West / Dra’ Abu el-Naga.
Sand, Wüste, Bibliothek, wo ist die Verbindung? Die „Medieneinheiten“ selbst befinden sich in den über Jahrhunderten gebildeten Sandschichten, in denen sich das Leben der Zeit versteckt hat bzw. aufbewahrt wurde. Jetzt heißt es nur noch dieses zu entdecken, die Fundstücke aufzubereiten und schließlich zu lesen.
Genau dies macht Frau Dr. Ina Eichner vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI/DAI), welche über das ägyptische Museum in Leipzig mit einem Amtshilfegesuch bei Herrn Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider angefragt hatte, ob ich bei der oben genannten Grabung die restauratorische und konservatorische Betreuung der ca. 65 in der Klosteranlage gefundenen Papyrusfragmente übernehmen könnte. Ja, dies war möglich, gerade von Bibliothek zu Bibliothek.
Angekommen auf der Grabung war ich sofort begeistert von den einfachen aber extrem professionellen Arbeitsstrukturen, die sich nicht wirklich in der langen Zeit von Grabungstätigkeiten verändert haben, auch die 35 °C nicht. Während meiner Anwesenheit arbeiten insgesamt 12 Archäolog*innen auf der Grabung. Zusätzlich kommen noch 10 Grabungshelfer*innen, welche die Schichten ausheben, wegtragen und nach Funden durchsieben. Darüber hinaus waren noch eine Kartiererin (diese Arbeiten werden jetzt digital verarbeitet), ein Objektzeichner und ich als Papyrusrestaurator vor Ort. Wobei die eigentlichen Restaurierungsarbeiten und somit mein hauptsächlicher Arbeitsplatz ca. 3 km entfernt, im Antikenmagazin Theben West, war.
Absolut spektakulär sind natürlich die Funde bzw. die Rekonstruktion der Klosteranlage selbst. Man muss sich das Kloster so vorstellen, dass alles Gemäuer einschließlich Inhalt bis auf ca. 1,50 Meter Wandhöhe erhalten ist. Das Kloster wurde im 6. Jh. gegründet und ist ziemlich sicher bis ins 10. Jh. bewohnt gewesen. Gefunden wurden – abgesehen von den Wänden – Einbauten wie Lehmbänke, Tische, Betten, die Kapelle sowie Vorratsbehälter. Nur die Toilette bzw. die Abfallgrube ist noch verborgen.
Das Kloster war bekannt für seine Produktion von Textilien bzw. ihre Weberei. Dies konnte durch die aufgefundenen Textilen und Webstühle selbst belegt werden. Weitere Funde sind Hölzer, Unmengen von Ostraka, Metalle, Goldmünzen, Teile von Kunstobjekten, Papier, umgenutzte Steine aus pharaonischer Zeit und „natürlich“ auch beschriebene Papyri. Diese wurden separiert und ins Magazin überführt. Dieses Magazin ist ein Hochsicherheitsobjekt und wird bewacht wie auch meine Arbeit selbst. Ständig befand sich eine Aufsichtsperson in meiner Nähe und nicht nur dies: Auch unzählige Schmeißfliegen wollten mir bei der Arbeit auf die Hände schauen.
Mein Arbeitstisch befand sich in einem Durchgangsraum, der eher einer Garage ähnelte und zu weiteren Magazinräumen führte. Die Arbeit an den zu restaurierenden Papyrusfragmenten unterschied sich nicht allzu sehr von der in der Bibliotheca Albertina in Leipzig. Die Albertina selbst besitzt viele solcher Papyrusfragmente, welche sich noch im Fundzustand befanden und jetzt alle verglast sind. Ich konnte drei wunderschöne Rollungen öffnen, mehrere Codex-Seiten entstehen lassen und zu guter Letzt sogar einen Papyrus zusammensetzen, welcher den Namen des Klosters führt – Paulus. Alle inhaltlich „lohnenswerten“ Papyrusfragmente wurden verglast und sicher in einer Box aufbewahrt. Insgesamt ein wirklich sehr zufriedenstellendes und gutes Ergebnis.
Zwei Dinge haben mich besonders fasziniert. Zum einen mit welcher Verantwortung und Begeisterung die Archäolog*innen und die Ägyptolog*innen ihre Arbeit unter zum Teil echt „hitzigen“ und einfachsten Bedingungen verrichten. Die Arbeit in der Wüste Ägyptens hat in der Tat nichts mit Ausgrabungsromantik zu tun. Zum anderen bin ich beeindruckt von der gelebten interdisziplinären Zusammenarbeit auf der Grabung selbst und unter den zeitgleich arbeitenden Teams aus allen Teilen der Welt. Die Kolleg*innen arbeiten an verschiedenen Orten Ägyptens, aber das Wissen um ihre Anwesenheit im Land lässt einen die gemeinsame Arbeit umso sinnvoller erleben.
Das Beachtlichste der Reise ist für mich, wie einfach eine modern denkende Universität Leipzig bzw. die UBL selbst mit einfachen Mitteln einen Beitrag zum Umgang mit menschlichen Zeitzeugnissen leisten kann. In einer Zeit, in der über die Rückgabe von Kulturgütern diskutiert, gestritten, geprüft und geforscht wird, ist der erste Schritt zu begreifen, dass wir den Inhalt der „Bibliothek des Lebens“ erhalten müssen, über Ländergrenzen, Wahrheiten und finanzielle Barrieren hinweg. Dazu hat diese Reise einen Teil beigetragen.
Alle Fotos: Jörg Graf