Mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und mit Unterstützung des sächsischen Landesdigitalisierungsprogramms (LDP) wird bis zum Frühjahr 2023 die Kirchenbibliothek der Annenkirche in Annaberg an der Universitätsbibliothek Leipzig katalogisiert. Rund 10 Prozent der Titel im Umfang von 52.000 Seiten werden darüber hinaus digitalisiert und im Internet veröffentlicht. Dabei handelt es sich um diejenigen Bücher, die in den deutschen Nationalbibliographien „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16)“ und „Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD17)“ noch nicht nachgewiesen sind und demzufolge bisher ein Desiderat darstellten. Neben den Druckschriften sollen auch 150 Fragmente mittelalterlicher Handschriften erschlossen und ebenfalls digitalisiert werden. Bei diesen Makulaturfragmenten handelt es sich um von den Buchbindern wiederverwendeten mittelalterlichen Pergamenthandschriften. Sowohl die Erschließungs- als auch Bilddaten der Fragmente sollen im Handschriftenportal (HSP) bereitgestellt werden.
Die gesamte Kirchenbibliothek umfasst ungefähr 2.800 Titel und wurde im November 2021 vollständig an die Universitätsbibliothek transportiert. Nach Abschluss des Projekts wird die Kirchenbibliothek an ihren angestammten Platz in Annaberg zurückkehren.
Die Kirchenbibliothek von Annaberg ist eine der historisch und kulturgeschichtlich bedeutenden evangelischen Kirchenbibliotheken im Freistaat Sachsen. Ihre Bestandsgeschichte macht sie zu einem einmaligen Überlieferungsensemble.
Die Stadt Annaberg wurde 1496 in der Regierungszeit Herzog Albrechts von Sachsen von dessen Sohn Herzog Georg gegründet, um die 1491 am nahen Schreckenberg entdeckten und zu fördernden reichen Silbervorkommen zu nutzen.
Im Zuge der Stadtentstehung wurden verschiedene geistliche Institutionen gegründet, deren Bücher nach dem Übergang des Herzogtums Sachsens zur Reformation 1539 in der St. Annenkirche zusammengezogen wurden. Insbesondere drei Buchbestände wurden so zum Gründungsbestand der evangelischen Kirchenbibliothek:
1. Von 1499 bis 1525 wurde die große Stadtkirche St. Anna gebaut, an der eine Bibliothek für die Geistlichen entstand. Ein Verzeichnis der Büchersammlung an der Stadtkirche von der Hand Johannes Zeidlers, des letzten katholischen Pfarrers von St. Annen, hat sich erhalten. Nach diesem Verzeichnis bestand die katholische Kirchenbibliothek aus rund 130 Bänden, die den Grundstock der späteren evangelischen Kirchenbibliothek bildete.
2. In den Jahren 1502 bis 1512 wurde in der Stadt ein Franziskanerkloster errichtet. Das von Herzog Georg reich begnadete Kloster baute sehr rasch eine umfangreiche Bibliothek auf, die mehr oder weniger vollständig 1540 in die Stadtkirche verbracht wurde. Der Großteil der Inkunabeln und der vorreformatorischen Drucke des 16. Jahrhunderts sowie der spätmittelalterlichen Handschriften stammt im Umfang von wahrscheinlich um die 520 Bänden aus dieser Provenienz. Bemerkenswert ist nicht nur die außerordentlich seltene, recht vollständige Überlieferung einer Klosterbibliothek in einem reformatorischen Territorium, sondern auch, wie außerordentlich rasch der Bestand aufgebaut wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die große Anzahl von früh-, hoch- und spätmittelalterlichen Handschriftenfragmenten in den spätgotischen Einbänden bemerkenswert. Diese Handschriftenmakulaturen dürften völlig unbekannte Handschriftenbestände dokumentieren, die von außerhalb in das neugegründete Annaberg gebracht wurden oder zumindest in der Region existierten und den lokalen Buchbindern zur Verfügung standen.
Bemerkenswert sind auch die Bücher des in Annaberg tätigen Pfarrers Johannes Pfennig, der sich zum Hussitismus bekannte und 1501 aus Annaberg flüchten musste. Seine zurückgelassenen Bücher kamen in die Franziskanerbibliothek.
3. Als dritte vorreformatorische Büchersammlung gelangten auch einige Bände aus dem städtischen Hospital zu unbekannter Zeit (wohl in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) in die Kirchenbibliothek von St. Annen. Diese Sammlung bestand wesentlich aus Vermächtnissen der am Hospital tätigen Geistlichen.
Auf der Basis der vorreformatorischen Buchbestände begann seit ungefähr 1560 der Aufbau einer evangelischen Kirchenbibliothek. Die ersten Erwerbungen datieren in das Jahr 1557. Schon 1558 setzten die Schenkungen von Einwohnern Annabergs ein. Ab diesem Zeitraum begegnet uns eine kontinuierliche Schenkungstätigkeit aus der Bürgerschaft für die Kirchenbibliothek, ein Phänomen, das wir auch aus anderen Kirchenbibliotheken kennen. In evangelischen Gebieten waren nach dem Übergang zur Reformation die Kirchenbibliotheken identitätsstiftende Institutionen der Gemeindebildung.
Von 1558 bis 1627 stand die Kirchenbibliothek in der Annaberger Schule bzw. wurde von der Schule genutzt. Erwerbungen dieser Jahre haben das Supralibros „Bibliotheca scholae Annabergensis“. Unabhängig von den räumlichen Verhältnissen waren Schulbibliothek und Kirchenbibliothek institutionell eng miteinander verzahnt, was eher ungewöhnlich ist. In anderen Kirchengemeinden, Beispiele sind St. Nikolai und St. Thomas in Leipzig oder St. Laurentius in Pegau, existierten seit den Jahren um 1600 institutionell und räumlich voneinander getrennte Kirchen- und Schulbibliotheken. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde die Kirchenbibliothek von St. Annen auch als Schulbibliothek genutzt und von 1814 bis 1877 in der Schule aufgestellt.
Neben den in den Büchern (teilweise unikal) überlieferten und nun zu erschließenden Inhalten besticht die Kirchenbibliothek von St. Annen durch den ursprünglichen Erhaltungszustand der Bücher. Im Gegensatz zu den akademischen oder fürstlichen Sammlungen der frühen Neuzeit wurden die Bücher der Kirchenbibliothek kaum überformt, also beispielsweise neu eingebunden. In großen Bibliotheken wie in Wolfenbüttel, Gotha oder Leipzig haben Generationen von Bibliothekaren daran gearbeitet, die Bücher immer wieder neu zu sortieren, aufzustellen und für eben dafür neu zu binden. Sammelbände wurden aufgelöst und Bücher neu eingebunden. In der Kirchenbibliothek Annaberg hingegen stehen die Bücher überwiegend in der Form, wie sie in die Bibliothek kamen. Entsprechend umfangreich sind die historischen Einbände, Handschriftenmakulaturen und Einträge in den Büchern erhalten. Ihre Dokumentation wird der Forschung einen reichhaltigen Quellenfundus zur Verfügung stellen.
Durch die Einbeziehung der Fragmentbestimmung bei der Aufarbeitung von historischen Druckbeständen hat das Projekt zur Annaberger Kirchenbibliothek Pilotcharakter. Die UB Leipzig agiert hierbei als Kompetenzzentrum und Serviceeinrichtung sowohl für die Druck- als auch Handschriftenerschließung und -digitalisierung.