Translationswissenschaft trifft Open Access

Interview mit den Herausgebenden der neuen Open-Access-Zeitschrift Yearbook of Translational Hermeneutics

Die UB Leipzig baut in den vergangenen Jahren kontinuierlich ihre finanzielle Förderung und Stärkung von verlagsunabhängigen Open-Access-Infrastrukturen aus. So bietet sie seit 2021 ihren Service für die Verwaltung und Veröffentlichung von elektronischen Zeitschriften, der auf der Zeitschriftenverwaltungs- und Publikationssoftware Open Journal Systems basiert, für Angehörige der Universität Leipzig kostenlos an. Damit unterstützt sie die Wissenschaftler*innen dabei, neue Open-Access-Zeitschriften zu gründen, beziehungsweise etablierte Schriftenreihen und Zeitschriften auf Open Access umzustellen.

Ende 2021 konnte so die zweite Open-Access-Zeitschrift der Universität Leipzig online gehen – das Yearbook of Translational Hermeneutics (YTH), drei weitere befinden sich aktuell in Vorbereitung. Wir sprachen mit den Herausgebenden von YTH über die erste Ausgabe ihres Jahrbuchs und ihre Erfahrungen beim Aufbau der Open-Access-Zeitschrift.

UB Leipzig: Liebe Herausgebende, welche Ziele verfolgen Sie mit dem Yearbook of Translational Hermeneutics und wer steht dahinter? Was genau bedeutet Übersetzungshermeneutik eigentlich?

Hrsg.: Die Übersetzungshermeneutik ist eine Richtung der Translationswissenschaft, die vor allem in den letzten Jahren vollen Aufschwung erfährt. Sie befasst sich mit den Bedingungen und dem Prozess des Textverstehens und -interpretierens, die jedem Umgang mit Texten, insbesondere aber auch ihrer Wiedergabe in einer neuen Sprache, in einem neuen kulturellen Kontext zugrunde liegen. Übersetzungen zeugen von dem, was die Übersetzenden am Ausgangstext verstanden haben und wie sie es verstanden haben, ihn in der Zielsprache zu „performen“.

Dieses prinzipielle Interesse für die vordergründig anthropologische Dimension des Übersetzens bietet ganz unterschiedlichen Ansätzen, von der Linguistik über die Kognitionswissenschaften bis hin zu den Performance Studies reichend, einen Ausgangspunkt, denen mit dem Yearbook of Translational Hermeneutics eine Plattform gegeben werden soll.

Herausgegeben wird die Zeitschrift von Ass.-Prof. Marco Agnetta (Innsbruck), Dr. Larisa Cercel (Leipzig) und Dr. Brian O’Keeffe (New York) unter der Schirmherrschaft des Forschungszentrums Hermeneutik und Kreativität. Institutionell angegliedert ist sie dem Institut für angewandte Linguistik und Translatologie (IALT) an der Universität Leipzig. Die Publikation selbst wird dankenswerterweise von der Universitätsbibliothek Leipzig gewährleistet.

UB Leipzig: Warum haben Sie sich für ein Jahrbuch als Erscheinungsfrequenz entschieden? Ist es an eine Tagung gekoppelt oder sind mehr Ausgaben pro Jahr zu viel?

„Durch diese angenehme

Erscheinungsfrequenz möchten wir im

schnelllebig werdenden akademischen

Betrieb einen anderen Akzent setzen:

die Zeitschriftennummern durchdenken

und reifen lassen, bevor sie an die

Fach-Community kommen;

dem Lesepublikum Zeit zum Aufnehmen,

Reflektieren, Reagieren gewähren.“

Hrsg.: Wir haben bei der Wahl der Publikationsfrequenz vordergründig auf Qualität denn auf Quantität gesetzt und möchten der Leserschaft unserer Zeitschrift mit einer jährlich erscheinenden, thematisch kohärenten Nummer fundierte Einblicke in das facettenreiche Feld der Übersetzungshermeneutik gewähren.

Durch diese angenehme Erscheinungsfrequenz möchten wir im schnelllebig werdenden akademischen Betrieb einen anderen Akzent setzen: die Zeitschriftennummern durchdenken und reifen lassen, bevor sie an die Fach-Community kommen; dem Lesepublikum Zeit zum Aufnehmen, Reflektieren, Reagieren gewähren. Das sind in unseren Augen Voraussetzungen für einen gut artikulierten Diskurs und für einen – so hoffen wir – fruchtbaren wissenschaftlichen Dialog. Das Jahrbuch ist grundsätzlich nicht an Tagungen gekoppelt, aber wir schließen diese Möglichkeit nicht aus, wenn sie sich für einzelne Hefte anbietet.

Turmbau zu Babel, Pieter Bruegel d. Ä. (1563)

UB Leipzig: Die erste Ausgabe des Jahrbuchs ist dem Buch „After Babel“ des Literaturwissenschaftlers, Schriftstellers und Sprachphilosophen George Steiner gewidmet – wieso fiel die Wahl ausgerechnet auf dieses Buch?

Hrsg.: George Steiner (1929–2020) hat mit seinem polarisierenden Essay After Babel (aber auch in weiteren Schriften) zahlreiche Mosaiksteine für die Beschreibung des Übersetzens als anthropologische Grundtätigkeit geliefert. Da er im genannten Hauptwerk das menschliche Kommunizieren, insbesondere das Verstehen der Äußerungen anderer, sub species translationis betrachtet, kann er mit gutem Recht als einer der Gründerväter der Übersetzungshermeneutik gelten – neben anderen Autoren wie Friedrich Schleiermacher, Hans-Georg Gadamer und Fritz Paepcke, um nur einige bedeutende Namen zu nennen.

Zugleich gehört After Babel zweifelsohne zu jenen wenigen großen Büchern über das Übersetzen, die der Übersetzerforschung seit Jahrzehnten reichlich Denkstoff und Anregungen anbieten. Wie jedes große Buch trägt es genug Provokationskraft in sich, um ein sehr breites Reaktionsspektrum zu entfachen: Wie sonst wenige Beiträge über das Übersetzen hat es die akademischen Geister gespalten. Und dennoch: Trotz z. T. heftiger, solide argumentierter Kritik scheint After Babel gewissermaßen souverän darüber zu stehen.

Unsere thematische Wahl für den Auftakt des Jahrbuchs für Übersetzungshermeneutik war folglich eine wohl überlegte: Sie ist vordergründig als eine akademische Reverenz an jenen Übersetzungsdenker und an jenes Buch zu verstehen, die die Übersetzungsforschung und insbesondere die Übersetzungshermeneutik tief geprägt haben. Gleichermaßen, so viel sei hier bereits verraten, erlauben sich die „neuen Lektüren”, wie im Titel dieser Ausgabe verkündet, ein gewisses Maß an kritischer Distanz. Ein zweifaches Jubiläum – 2020 wäre der 90. Geburtstag des Autors George Steiner gewesen, im selben Jahr ist seine Monographie After Babel 45 Jahre „jung” geworden – bot für unser Vorhaben einen zusätzlichen (Ge‑)Denkrahmen, um das Gespräch zwischen Steiner und der zeitgenössischen Translationswissenschaft fortzusetzen.

UB Leipzig: Werden auch die zukünftigen Auflagen eine thematische Schwerpunktsetzung haben?

Hrsg.: Wahrscheinlich schon! Wir Herausgebende denken, dass die Konzeption der einzelnen Heftnummern mit einer gewissen thematischen Kohärenz qualitätssichernd wirkt und zugleich die Sichtbarkeit der einzelnen Autoren erhöht. Die Schwerpunkte sollen aktuell relevanten Themen in der Übersetzungshermeneutik entsprechen. Dies ist auch der Grund für die gezielte Einladung von etablierten Forschenden und Nachwuchswissenschaftler*innen, an den jeweiligen Nummern mitzuwirken. Leser*innen einer in sich konsistenten Heftnummer dürfen sich dann auf Beiträge freuen, die jeweils unterschiedliche Facetten des Oberthemas beleuchten und sich genau dadurch im Spektrum der vielen Perspektiven auf den Gegenstand selbst verorten. Wissenschaftliche Diversität stellt sich hier gerade im Fokus auf einen gemeinsamen Gegenstand ein.

Dies alles bedeutet nicht, dass die Herausgebenden den Beitragenden ein Thema aufoktroyieren. Die Wahl des thematischen Schwerpunkts erfolgt im Dialog mit der Forschungs-Community. Jede*r (Übersetzungs-)Wissenschaftler*in darf sich um die Gast-Herausgabe einer Nummer bewerben und ein Thema vorschlagen, von dem er*sie ausgeht, dass es in der gegenwärtigen Forschungslandschaft Anklang findet.

UB Leipzig: Warum haben Sie sich entschieden, das Jahrbuch im Open Access und verlagsunabhängig zu veröffentlichen?

Hrsg.: In der heutigen Zeit wird die peer-reviewte Open-Access-Publikation des eigenen Forschungsbeitrags immer wichtiger. Gleichzeitig haben gerade in kleineren Wissenschaften die Forschenden nicht die größten Budgets. Die verlagsunabhängige Publikation bietet allen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, ihre translationsbezogene Forschung unabhängig von den (nicht) zur Verfügung stehenden Finanzmitteln in einem Publikationsorgan unterzubringen, der hoffentlich in Zukunft – in einschlägigen Forscherkreisen und darüber hinaus – Bekanntheit erlangt. Sichtbarkeit und Kostenneutralität sind damit gegeben.

„Die verlagsunabhängige Publikation bietet

allen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit,

ihre translationsbezogene Forschung

unabhängig von den (nicht) zur Verfügung

stehenden Finanzmitteln in einem

Publikationsorgan unterzubringen.“

Die Herausgabe der Zeitschrift ist Ergebnis einer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen dem diesbezüglich ehrenamtlich arbeitenden Herausgeberteam und den Mitarbeiter*innen der Universitätsbibliothek Leipzig (s. u.). Während die Herausgebenden die wissenschaftliche Qualität der Beiträge sichern, gewährleisten die letztgenannten Expert*innen ihre reibungslose Nachnutzbarkeit (Indexierung, Sichtbarmachung und Langzeitarchivierung). Jedenfalls schließt die Zeitschrift, wie die Resonanz auf das Projekt zeigt, eine Lücke in der Verfügbarmachung qualitativ hochwertiger translationshermeneutischer Forschung.

UB Leipzig: Wie akquirieren Sie die Beiträge und organisieren den Begutachtungsprozess?

Hrsg.: Die Beiträge werden sowohl über offene Calls als auch über persönliche Einladungen eingeholt. Die eingereichten Artikel werden zuerst von den (Gast-)Herausgebenden gesichtet und dann einem Single- oder Double-blind-review-Verfahren unterzogen. Buchrezensionen und Forumsbeiträge durchlaufen kein solches Review-Verfahren, sondern werden von den Herausgebenden betreut.

UB Leipzig: Sie haben dieses Projekt mitten in der Corona-Pandemie gestartet. Die Herausgebenden wohnen und arbeiten zudem in drei verschiedenen Ländern und auf zwei Kontinenten, also quasi „transnational“. Die Arbeit an dem Jahrbuch war sicher komplex. Welche Herausforderungen gab es bei der Gründung Ihrer wissenschaftsgeführten Zeitschrift und wie haben Sie sie gemeistert? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, die Sie gerne weitergeben würden? Welche Fehler?

Hrsg.: Die Pandemie hat der Zusammenarbeit nur indirekt geschadet. Schließlich wohnen, wie Sie auch angedeutet haben, die Herausgebenden (mittlerweile) in unterschiedlichen Ländern und sind eine effiziente Kooperation über digitale Medien schon vor Pandemiebeginn gewohnt. In einer global vernetzten Forschungs-Community wie der unseren ist die digitale Zusammenarbeit keine ungewöhnliche Bedingung. Dies war uns von vornherein bewusst.

„Die größte Herausforderung war das

Auffinden eines Publikationspartners,

der uns in infrastruktureller Hinsicht

bei dem Aufbau der Zeitschrift begleitet.

Wir sind sehr froh, dass wir diesen

im Team der Universitätsbibliothek der

Universität Leipzig gefunden haben.“

Bisher klappt die Kooperation reibungslos – und zwar zwischen allen Beteiligten: den Herausgebenden, den Gastherausgebenden und den Beitragenden. Gute Planung, klare Absprachen in Bezug auf den Workflow und die Terminierung und eine angenehme Arbeitsatmosphäre innerhalb des editorischen Teams tragen zum Erfolg eines solchen langfristig angelegten Publikationsprojekts bei.

Die größte Herausforderung war das Auffinden eines Publikationspartners, der uns in infrastruktureller Hinsicht bei dem Aufbau der Zeitschrift begleitet. Wir sind sehr froh, dass wir diesen im Team der Universitätsbibliothek der Universität Leipzig gefunden haben. Die Kooperation, namentlich mit Adriana Slavcheva und Martin Bauschmann, denen an dieser Stelle ganz herzlich gedankt ist, läuft komplikations- und reibungslos. Jeder neu gegründeten Zeitschrift mag ein solch hilfreiches Team vergönnt sein!

UB Leipzig: Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft des Yearbook of Translational Hermeneutics?

Hrsg.: Wir wünschen dem Yearbook eine lange und erfüllte Lebensdauer, eine interessierte Leserschaft und motivierte (Gast-)Herausgebende, die die Richtung der Zeitschrift mit innovativen Fragestellungen mitgestalten möchten.

UB Leipzig: Wir sind begeistert von dieser Initiative und wünschen dem Yearbook of Translational Hermeneutics viel Erfolg und vor allem ein großes Echo in der Wissenschaftswelt. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Hrsg.: Vielen herzlichen Dank!


Die quelloffenen Software Open Journal Systems (OJS) ermöglicht die integrierte Verwaltung und Veröffentlichung von elektronischen Zeitschriften für alle redaktionellen Arbeitsschritte vom Einreichen über mehrstufige Begutachtungsverfahren bis zur Veröffentlichung der Beiträge.

Das Open Science Office der Universitätsbibliothek Leipzig begleitet die Herausgebenden auf dem Weg zur Open-Access-Zeitschrift. Wir übernehmen das Hosting der E-Journal-Software OJS und unterstützen bei deren Einrichtung und Konfiguration, sichern die Langzeitarchivierung der Zeitschrift und bieten zahlreiche administrative und bibliothekarische Services sowie Beratungs- und Schulungsangebote, um die Sichtbarkeit der Publikationen durch Indexierung in fachlich relevanten Datenbanken und Verzeichnissen zu steigern.

Sprechen Sie uns an, wir beraten Sie gern! 

Adriana Slavcheva (UBL)

Dr. Adriana Slavcheva ist an der Universitätsbibliothek Leipzig Open-Access-Referentin im Open Science Office sowie Fachreferentin für Kommunikations- und Medienwissenschaften.

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