Fragmente schreiben Literaturgeschichte

Neue Textfunde zur deutschsprachigen geistlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts

Ein Beitrag von Werner Hoffmann, Matthias Eifler und Katrin Sturm

1. Wieder entdeckt und freigelegt

Jahrhundertelang überdauerten zwei Pergamentblätter unbeachtet als Einbandbezüge in den Magazinen der Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars in Wittenberg, die jetzt Teil der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek ist. Erst bei einer Bestandssichtung im Frühsommer 2019 entdeckte der stellvertretende Bibliotheksleiter, Pfarrer Matthias Piontek, dass sie nicht nur sehr altes, sondern darüber hinaus auch noch volkssprachiges Textmaterial enthalten.

Womit die Universitätsbibliothek Leipzig und ihr Handschriftenzentrum ins Spiel kamen: Nachdem in einer ersten Autopsie deutlich geworden war, dass es sich bei beiden Stücken um frühe Zeugnisse für die volkssprachige deutsche Literatur des Mittelalters handelt, wurden sie in der Restaurierungswerkstatt der UB Leipzig von den Einbänden gelöst, um auch die Textpassagen auf der Rückseite sichtbar zu machen. Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Handschriftenzentrums wurden die Fragmente anschließend wissenschaftlich untersucht und ihre Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters herausgearbeitet.

2. Ein Fragment des ‚St. Trudperter Hohen Lieds‘

Das erste Fragment überliefert Stücke aus dem ‚St. Trudperter Hohen Lied‘. Das Hohelied, eine dialogisch gestaltete Sammlung von Liebesliedern im Alten Testament, war das wohl am häufigsten kommentierte Buch der Bibel im Mittelalter. Man verstand es nicht als erotische Dichtung, sondern interpretierte es immer im geistlichen Sinn, wobei der Bräutigam mit Gott bzw. den drei Personen der Trinität gleichgesetzt wurde und die Braut entweder mit der Kirche, der Einzelseele oder der Gottesmutter Maria.

Das ‚St. Trudperter Hohelied‘ ist die früheste rein volkssprachige Auslegung des Hohenlieds aus dem Mittelalter. Es wurde um 1160 von einem geistlichen Betreuer eines Nonnenklosters verfasst und richtet sich an ein Nonnenpublikum. Das rhetorisch durchgestaltete Werk gilt als „für lange Zeit vollkommenste Kunstprosa in deutscher Sprache“ (Friedrich Ohly im Nachwort der jüngsten Ausgabe des Textes). Seinen Titel erhielt das Werk nach dem Benediktinerkloster St. Trudpert im Schwarzwald, wo die älteste vollständig erhaltene Handschrift aufgefunden wurde. Entstanden ist der Text jedoch nicht in St. Trudpert, sondern wohl im Benediktinerkloster Admont in der Steiermark.

Bei dem Wittenberger Fragment handelt es sich um ein fast vollständiges Doppelblatt einer Pergamenthandschrift, die – wie die Schriftuntersuchung ergab – im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts geschrieben wurde. Aufgrund der Schreibsprache, also der dialektalen Färbung des handgeschriebenen Deutschs, ist die Handschrift nach Nordbayern-Franken zu lokalisieren.

Bisher waren sechs vollständige und zwei fragmentarische Handschriften des ‚St. Trudperter Hohen Lieds‘ bekannt, die ein anhaltendes Interesse an dem Text über ca. 350 Jahre hinweg bezeugen (die jüngsten Handschriften entstanden 1509–1510 in einem Münchner Frauenkloster). Das Wittenberger Fragment ist der drittälteste erhaltene Textzeuge, älter sind nur ein dem Original zeitlich sehr nahestehendes Nürnberger Fragment aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts und die in Wien aufbewahrte, aus St. Trudpert stammende vollständige Handschrift aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts.

Da der Wittenberger Textzeuge mehr als ein Jahrhundert nach der Abfassung des Werks entstand, verwundert es nicht, dass er vielfach Modernisierungen, Auslassungen und fehlerhafte Lesungen bietet. Nichtsdestotrotz stellt er ein wichtiges Überlieferungszeugnis für einen der herausragendsten Texte der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts dar.

3. Der älteste Textzeuge des ‚Evangelium Nicodemi‘ des Heinrich von Hesler

Das zweite Fragment enthält einen Ausschnitt aus der von Heinrich von Hesler verfassten Versübertragung des ‚Evangelium Nicodemi‘. Dieses im Mittelalter äußerst populäre apokryphe Evangelium füllt „Lücken“ aus, die die kanonischen Evangelien gelassen hatten: So behandelt es u. a. ausführlich den Prozess Jesu vor Pilatus und die Höllenfahrt Christi (d. h. den Abstieg Christi in die Unterwelt nach seinem Tod mit der Befreiung der Propheten und der Besiegung Satans). Heinrich von Hesler bietet in seiner 5.392 Reimpaarverse umfassenden Dichtung nicht einfach nur eine Übersetzung des ‚Evangelium Nicodemi‘, sondern erweitert die Erzählung immer wieder durch gelehrte Erörterungen über Sündenfall und Erlösung. Neben dem ‚Evangelium Nicodemi‘ verfasste Heinrich noch zwei weitere Dichtungen, einen umfangreichen Kommentar zur ‚Apokalypse‘ (über 23.000 Verse) und ein nur fragmentarisch erhaltenes Werk mit dem Titel ‚Erlösung‘.

Heinrich von Hesler: ‚Evangelium Nicodemi‘ (PS 8°Ph70, abgelöste Einbandmakulatur)

Über die Person Heinrichs ist nur wenig bekannt, es wird vermutet, dass er dem Geschlecht der Herren von Hesler angehörte, das seinen Sitz im ca. 15 km von Naumburg entfernten Burgheßler hatte; er war wohl Laie, weil er sich an einer Stelle als Ritter bezeichnet. Große Unsicherheit herrschte bisher in der Frage der Datierung seiner Werke: Während die ältere Forschung das Wirken Heinrichs in die Zeit um 1300 verlegte und die Entstehung seiner Dichtungen in Zusammenhang mit dem Deutschen Orden brachte, setzt die neuere Forschung sein Wirken in die Zeit um 1250–1260. Dass auch diese Frühdatierung noch viel zu spät liegt, beweist nun das neu identifizierte Fragment.

Das Fragment, ein geringfügig beschnittenes Pergamentblatt im Quartformat, stammt aus einer Handschrift, die aufgrund ihrer Schriftmerkmale in die Zeit um 1215–1225 zu datieren ist. Für die Datierung des Hesler-Fragments ist beispielsweise das w ein wichtiger Buchstabe: Man erkennt deutlich, dass er noch aus zwei v zusammengesetzt ist, dass beide Buchstaben(-hälften) aber bereits nahe aneinandergerückt sind, was eine typische Erscheinung der 1215er bis 1225er Jahre darstellt. In seinen Buchstabenformen und im Schriftduktus ähnelt das Wittenberger Fragment der Heidelberger ‚Rolandslied‘-Handschrift, die von der Forschung mittlerweile auf um 1200 datiert wird, auch wenn sie nur in einigen Details etwas konservativer erscheint. Die Schreibsprache und der Buchschmuck verweisen auf eine Entstehung im Mittelrheingebiet.

Bisher waren vier vollständige Handschriften und neun Fragmente mit Heinrichs von Hesler ‚Evangelium Nicodemi‘ bekannt, von denen nur ein in München aufbewahrtes Fragment noch aus dem 13. Jahrhundert, und zwar aus dessen letztem Viertel, stammt. Das Wittenberger Fragment ist also der mit weitem Abstand älteste Textzeuge des ‚Evangelium Nicodemi‘. Es zwingt zu einer radikalen Umdatierung des Werks, das nun nicht mehr in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu setzen ist, sondern in den Anfang des Jahrhunderts, wohl ins zweite Jahrzehnt. Damit ist die Dichtung auch in einen ganz anderen literaturhistorischen Kontext zu setzen: Ihre Entstehung darf nicht mehr im Zusammenhang mit dem Deutschen Orden gesehen werden, sondern könnte durchaus in den Umkreis der Literatur am Hof des thüringischen Landgrafen gehören, wo v. a. auch Wolfram von Eschenbach mit seinem ‚Parzival‘ gefördert wurde.   

4. Pergament-Recycling im 17. Jahrhundert

Die Handschriften des 13. Jahrhunderts, aus denen die beiden Wittenberger Fragmente stammen, wurden im 17. Jahrhundert makuliert, d. h. zerschnitten und vom Buchbinder als Einbandbezüge verwendet. Ein solches „Recycling“ von Blättern aus nicht mehr benötigten Pergamenthandschriften war seit dem Frühmittelalter üblich, war doch Pergament ein dauerhaftes und teures Material.

Mitunter geben die Druckdaten und -orte der in solche Fragmente eingebundenen Werke oder die bei der Makulierung außerdem verwendeten Materialien Auskunft darüber, wann und wo die Ursprungshandschrift „recycelt“ worden ist. Auch bei der Ablösung der Wittenberger Fragmente fanden sich solche zusätzlichen Materialien, z. B. auf die Innenseiten der Fragmente geklebte Papierkaschierungen.

Titelblatt des ‚Donatus novus‘
(PS 8°SW128 fol. 1r)

Die Makulierung der Hohelied-Handschrift erfolgte sehr wahrscheinlich bald nach 1632 in Leipzig: Hier wurde das Doppelblatt als Einbandbezug eines ‚Donatus novus‘, eines Compendiums der lateinischen Grammatik für die Schüler der Leipziger Nikolaischule, verwendet.

Die Ursprungshandschrift des ‚Evangelium Nicodemi‘ wiederum könnte um 1658 in Erfurt zerschnitten und wiederverwendet worden sein. Der Trägerband des Wittenberger Fragments enthält fünf zwischen 1652 und 1658 in Erfurt erschienene Drucke des Erfurter Medizinprofessors und Stadtphysicus Eckard Leichner (1612–1690). Als Kaschierung wurde auf die Innenseite des Fragments ein unbeschnittener Druckbogen eines „Schreib-Kalenders“ des Johannes Stilsovius (ca. 1595–1659) für das Jahr 1658 geklebt, der wohl im Jahr zuvor bei der Erfurter Verlegerin Martha Hertz gedruckt worden war. Da dieses Exemplar im Verzeichnis der Drucke des 17. Jahrhunderts (VD17) nicht nachgewiesen ist, könnte es sich um einen Fehldruck handeln, von dem keine weiteren Exemplare existieren: Dies würde auch die Verwendung des unaufgeschnittenen Druckbogens als Kaschierung erklären.

Jeremias Deutschmann

Auf welchem Weg die in Leipzig und Erfurt herausgegebenen und wohl auch gebundenen Drucke in die Wittenberger Bibliothek gelangt sind, zeigen Besitzeinträge auf den Titelblättern. Beide Trägerbände waren im Jahr 1700 von dem lutherischen Theologen und Archidiakon der Stadtkirche in Wittenberg Jeremias Deutschmann erworben worden. Die Büchersammlung Deutschmanns ging nach seinem Tod (1704) in die Wittenberger Universitätsbibliothek ein, die 1817 zu einem großen Teil vom Evangelischen Predigerseminar übernommen wurde.

5. Im Wittenberger Schloss zu sehen

Erstmals der Öffentlichkeit gezeigt werden die beiden Fragmente in einer Kabinettausstellung, die vom 21. Februar bis zum 20. Mai 2020 im Wittenberger Schloss zu sehen ist. In dieser Ausstellung werden außer den beiden neu entdeckten deutschen Fragmenten auch zahlreiche lateinische aus der Zeit vom 9. bis zum 15. Jahrhundert gezeigt, die entweder noch als Bucheinbände an den Trägerbänden erhalten oder im frühen 20. Jahrhundert von diesen abgelöst worden sind.   


Matthias Eifler (Textbestimmung, Provenienzgeschichte), Werner Hoffmann (Schreibsprachenbestimmung, Transkription, literaturgeschichtliche Einordnung), Christoph Mackert und Katrin Sturm (Paläographie, Buchschmuck) haben gemeinsam die wissenschaftliche Bearbeitung der beiden Fragmente durchgeführt. Die Ablösung der Fragmente von ihren Trägerbänden erfolgte durch Jörg Graf und Mina Rakelmann.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert