Universität ohne Bibliothek

Bücher an der Universität Leipzig vor der Gründung der UB Leipzig (1409–1543)

1. Quellenfundus für das frühe Universitätsleben

Am 2. Dezember feiert die Universität Leipzig ihren 610. Geburtstag und damit ihr Gründungsjahr von 1409. Erst mit einer zeitlichen Verzögerung von fast 150 Jahren konnte die Universitätsbibliothek 1543 durch Caspar Borner eingerichtet werden. Somit konnte die UB für die ersten 150 Jahre der Universität damit also nicht die zentrale Rolle innerhalb des universitären Lebens einnehmen, die sie heute innehat.

Man könnte daraus schlussfolgern, dass die Universitätsbibliothek mit ihren Büchern keinerlei Verbindungen zur frühen Universität aufweist und erst für die Zeit ab der Mitte des 16. Jahrhunderts Quellen für den Lehr- und Lernbetrieb an der Universität verwahrt. Aber weit gefehlt: Denn in ihrem Bestand an mittelalterlichen Handschriften, Inkunabeln und Drucken des 16. Jahrhunderts befinden sich zahlreiche direkte Zeugnisse der ersten 150 Universitätsjahre. Sie stammen teilweise von Studenten und Lehrenden und geben damit Auskunft über die Personen selbst, über besuchte Lehrveranstaltungen, Praktiken der Wissensvermittlung, wichtige Institutionen und Lernorte der frühen Universität. Sie sind erst später – meist über die Vermittlung von universitären Einrichtungen wie der Kollegien oder den Fakultäten – an die Bibliothek gekommen und besitzen dadurch einen besonderen Quellenwert für die Frühzeit der Leipziger Universität.

2. Ms 1301: Ein philosophisches Taschenbuch aus dem direkten Studienbetrieb

Ein Beispiel für eine solche für das frühe Universitätsleben bedeutende Quelle ist die Leipziger Handschrift mit der Signatur Ms 1301 (Digitalisat, Beschreibung).

Ms 1301, fol. 2r: Textbeginn

Die Handschrift führt uns zurück in die Mitte des 15. Jahrhunderts. Sie ist auf Papier geschrieben und ihre Blätter haben in etwa eine Größe, die unserem heutigen A5-Format entspricht. Im Vergleich zu vielen anderen mittelalterlichen Handschriften dieser Zeit ist der Band auffällig leicht, da er einen flexiblen Einband aufweist: Diese Einbandart, in der die einzelnen Lagen des Buchblocks in einen Pergamentumschlag eingenäht sind, wird als Kopert(-einband) bezeichnet. Bei Studenten waren Koperteinbände beliebt, weil sie in ihrer Anfertigung viel kostengünstiger waren als die sonst üblichen Holzdeckeleinbände. Aufgrund ihrer Flexibilität und guten Handhabbarkeit werden sie auch die ‚Taschenbücher des Mittelalters‘ genannt.

Koperteinbände der UB Leipzig
Koperteinbände in der UB Leipzig

Mittelalterliche Handschriften geben in der Regel nicht explizit Auskunft über ihre Entstehungszeit, ihren Entstehungsort, ihre Vorbesitzer und auch nicht über die in ihr enthaltenen Texte – diese Daten müssen durch intensive Recherche erschlossen werden. Im Falle von Ms 1301 bringt uns der Schreiber der Handschrift allerdings in eine außerordentlich glückliche Lage: Da er detailliert am Ende jedes Textes verzeichnet, wann er die jeweilige Textabschrift beendet hat, eröffnet sich ein direkter Zugriff zumindest auf die Entstehungszeit der Handschrift. Es ergibt sich ein engmaschiges Netz von fünf Haupttexten, die innerhalb von nur einem Monat im Zeitraum vom 15. Januar bis zum 8. Februar 1444 abgeschrieben wurden.

Am Ende der Handschrift auf fol. 345r gibt es einen weiteren Eintrag, der die Entstehungsgeschichte des Bandes erhellen kann. Auf den ersten Blick scheint er wenig aussagekräftig, da er mit brauner Tinte überstrichen ist. Bei genauer Untersuchung lassen sich unter der Tinte allerdings noch einige Schriftzüge deutlich erkennen und folgendermaßen lesen: Thomas Hartt est huius libri possessor [Übersetzung: Thomas Hartt ist Besitzer dieses Buches.].

Ms 1301, fol. 345ra: getilgter Besitzeintrag des Thomas Hartt

Ein Thomas Hart ist nun in den Matrikeln der Universität Leipzig tatsächlich für die Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbar (CDS II 16–18: Bd. I, S. 143; Bd. II, S. 135; Bd. III, S. 294): Er immatrikulierte sich im Sommersemester 1443 (während des Rektorats von Johannes Weiße aus Rostock) und erwarb den Baccalar-Abschluss im Sommersemester 1445. Bei der Immatrikulation entrichtete er zwar zunächst nur sechs Gulden und damit nicht den vollen Beitrag der Immatrikulationsgebühr von zehn Gulden, er holte dies jedoch später nach, womit er in etwa dem sozialen Mittelfeld der Studentenschaft angehört haben dürfte. Thomas Hart kam aus Herzogenaurach nach Leipzig zum Studium und gehörte demzufolge der Bayerischen Nation an.

Ausgehend von den Daten, die die Universitätsmatrikel zur Verfügung stellt, befand sich Thomas Hart bei der Niederschrift der Handschrift Ms 1301 im zweiten Studiensemester seines Grund- bzw. Baccalar-Studiums. Das passt nun ganz wunderbar zu den in der Handschrift versammelten Texten, bei denen es sich um kleine philosophische Abhandlungen, sogenannte Quaestionen, handelt. In Quaestionen wird der in Vorlesungen vermittelte Stoff oder andere komplexe Sachverhalte in Form einer fingierten Diskussion, die aus Frage, Einwänden und widerlegten Einwänden besteht, durchgespielt. Quaestionen waren als wissenschaftliche Abhandlungen in der Scholastik und damit in den mittelalterlichen Universitäten weit verbreitet. Die Quaestionen in Ms 1301 beziehen sich überwiegend auf die philosophisch-logischen Grundlagenwerke wie den aristotelischen ‚Parva logicalia‘, wie sie im universitären Grundstudium, in dem sich Thomas Hart befunden hat, gelehrt wurden. Dass diese Texte auch an der Leipziger Universität Bestandteil des Curriculums waren, belegen neben Ms 1301 studentische Belegzettel über besuchte Lehrveranstaltungen, die sogenannten Cedulae, sowie die Universitätsstatuten.

Mit der Handschrift Ms 1301 ist also ein direktes Zeugnis des Lehr- und Lernbetriebs der Universität Leipzig in den 1440er Jahren zu greifen. Dem Studenten Thomas Hart aus Herzogenaurach, der sonst nur durch die Universitätsmatrikeln belegt ist, kann mit der Handschrift Ms 1301 eine Quelle zugewiesen werden, die von seiner Studientätigkeit zeugt: In seinem zweiten Semester hat er im Januar und Februar des Jahres 1444 Quaestionen zu philosophischen Grundlagentexten wahrscheinlich zur Prüfungsvorbereitung abgeschrieben und binden lassen.

Im Jahr 1507 ist diese Handschrift bereits sicher im Buchstand des Kleinen Fürstenkollegs durch eine Bücherliste (Digitalisat des Originals in Ms 1672, hier fol. 21r, Digitalisat der Edition von Karl Boysen, hier S. 62, Nr. 121) nachweisbar.

Leipzig, UB, Ms 1672, fol. 21r (Ausschnitt, unterstrichener Eintrag: Exercicium paruorum loicalium)
Leipzig, UB, Ms 1672, fol. 21r (Ausschnitt des Bücherverzeichnisses, unterstrichener Eintrag: Exercicium paruorum loicalium)

Das Kleine Fürstenkolleg ist eines der vier Kollegien, die im 15. Jahrhundert an der Universität eingerichtet wurden, um einerseits die Magister zu versorgen und ihnen eine Wohnstätte zu bieten, andererseits um Unterrichts- und Lernstätten zur Verfügung zu stellen.

Wie Ms 1301 an das Kleine Fürstenkolleg gelangt ist, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Im Jahr 1682 kam sie mit dem gesamten Buchbestand des Kollegs an die Universitätsbibliothek.

3. How to be continued

In loser Abfolge sollen in einer Serie verschiedene (spät-)mittelalterliche Handschriften aus dem Bestand der UB Leipzig vorgestellt werden, um sie zur frühen Universitätsgeschichte sprechen zu lassen: Wie wurde damals studiert? Welche und warum besaß man Bücher? Wie sahen diese Bücher aus?

Hiermit sollen natürlich die Handschriften der Universitätsbibliothek selbst als wichtige Quellen in das Bewusstsein gerufen werden. Zusätzlich können bereits bekannte historische Fakten an den handschriftlichen Objekten illustriert, vereinzelt auch Details, die nicht bekannt waren, herausgearbeitet werden.

Protagonistin des nächsten Artikels soll die Handschrift Ms 1388 sein: Mit dieser Handschrift kann über die persönliche Ebene, wie sie in Ms 1301 vorhanden ist, hinaus auf die institutionelle Ebene geschaut werden. In ihr sind Texte vereint, die sowohl an der Rostocker als auch an der Leipziger Universität entstanden sind.

Ms 1388, fol. 1ra: Textbeginn

Katrin Sturm

Katrin Sturm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum an der Universitätsbibliothek Leipzig.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert