Eine der ältesten deutschsprachigen Papierhandschriften im Bestand der ehemaligen Donaueschinger Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe entdeckt.
1. Intro
Seit 2015 wird am Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig das DFG-Projekt ‚Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften der BLB Karlsruhe (Teil B)‘ durchgeführt. Auch wenn das Projekt sich langsam dem Ende zuneigt, bringt es immer wieder bemerkenswerte Entdeckungen hervor. Mit der Handschrift Donaueschingen B V 13 kann nun aus kodikologischer – also materialitätsbezogener – Sicht ein ganz besonderer Fund vermeldet werden.
Das Äußere des kleinen Bands erscheint zunächst völlig unauffällig. Der Codex misst nur wenige Millimeter mehr als ein Blatt im heutigen DIN A6-Format. Als Einband dient ein flexibler Pergamentumschlag, der durch zwei recycelte Urkunden gebildet wird und zusätzlich mit einem weichen, roten Leder überzogen ist. Die 99 Papierblätter der Handschrift verteilen sich auf neun unterschiedlich umfangreiche Lagen.
Doch bereits bei der ersten haptischen Begegnung mit dem Buchblock des Bandes ist sein hohes Alter zu erahnen. Das Papier fühlt sich im Vergleich zu Papier des 15. Jahrhunderts, aber auch zu unserem heutigen, viel dicker und steifer an. Diese auffallende Starrheit bzw. Dicke ist Resultat eines frühen Stadiums des Papierfertigungsprozesses mit noch anders konstruierten Schöpfsieben. Das Schöpfsieb, ein Metallsieb in einem Holzrahmen, wurde durch senkrecht verlaufende Binde- und waagerecht verlaufende Ripp- bzw. Bodendrähte gebildet. Diese Drähte waren in der Frühzeit der Papierproduktion noch sehr dick und teilweise ungleichmäßig gefertigt, was zur Folge hatte, dass sie erstens mit einem größeren Abstand zueinander angebracht wurden und dass man zweitens ziemlich viel Fasermasse benötigte, um auf dem Sieb eine gleichmäßige Papieroberfläche herzustellen. Papierdicke und -struktur von Donaueschingen B V 13 können also als Indizien dafür gewertet werden, dass es sich hier um Papier aus dem 14. Jahrhundert handelt, aus einer Zeit also, in der sich das Papier als ‚neuer‘ Beschreibstoff in Deutschland erst langsam gegen das bis dahin vorherrschende Pergament durchsetzen konnte. Die bereits ca. 100 n. Chr. in China entstandene Technik der Papierherstellung wurde infolge des Kontakts zwischen christlichem Abendland und dem islamischen Morgenland v. a. im Gebiet des heutigen Spaniens schließlich auch nach Europa verbreitet und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Italien (v. a. in Fabriano, Provinz Ancona) entscheidend verändert. Dort wurde es zusätzlich besser vermarktet, was die Grundlage für den Siegeszug ab dem 14. Jahrhundert und die zunehmende Nutzung von Papier auch in Nordeuropa und Deutschland bildete.
2. Wasserzeichen als Hilfsmittel zur Datierung von mittelalterlichen Handschriften
Mittelalterliche Papierhandschriften können in der Regel über ihre Wasserzeichen genauer datiert werden. Wir kennen Wasserzeichen auch heute noch, beispielsweise auf Geldscheinen, wo sie als Mittel zum Nachweis der Echtheit dienen. Dabei wird damals wie heute auf dasselbe Prinzip zurückgegriffen: auf die Variation der Papierstärke bei der Papierherstellung. Eine der erwähnten Neuerungen in der Papierherstellung von Fabriano war es nämlich, dass auf das Schöpfsieb ein Metalldraht geknüpft bzw. gelötet wurde, der in eine ganz bestimmte Motivform gebogen war – beispielsweise ein stilisiertes Tier oder eine einfache geometrische Figur. Wenn sich bei der Papierherstellung nun das breiige Gemisch aus zerkleinerten Lumpen und Wasser auf dem Schöpfsieb verteilte, konnte sich dort, wo sich die Drahtform befand, weniger Masse ablagern, was zur Folge hatte, dass der Papierbogen dort dünner war. Auf den ersten Blick ist diese variierende Materialstärke kaum bemerkbar; hält man das Blatt allerdings gegen das Licht, so ist an diesen Stellen das entstandene Wasserzeichen gut erkennbar.
Aufgrund der intensiven Beanspruchung waren die Schöpfsiebe wahrscheinlich nicht länger als zwei Jahre in Gebrauch. Danach wurden sie neu gefertigt und auf ihnen neue Drahtfiguren angebracht: Diese konnten entweder das gleiche, in Größe und Position aber leicht variierende Motiv wie das Vorgängersieb aufweisen oder aber völlig neue Formen. Wasserzeichen waren also einem raschen Wandel unterworfen, was sie heute zu einem hervorragenden Hilfsmittel für Datierungen macht. Findet man in Wasserzeichenrepertorien, also Sammlungen von datierten oder sehr gut datierbaren Wasserzeichen, Belege, die mit dem eigenen Wasserzeichen identisch sind oder sehr genau übereinstimmen, ist davon auszugehen, dass die Produktion des zugehörigen Papiers nicht weiter als zwei Jahre vor oder nach dem Datum des Belegs liegen dürfte. Da Papier im Mittelalter nicht lange gelagert wurde, ist es darüber hinaus methodisch zulässig, von der Datierung des Papiers Rückschlüsse auf die Entstehung bzw. Beschriftung einer aus diesem Papier bestehenden Handschrift zu ziehen.
3. Die Wasserzeichen der Handschrift Donaueschingen B V 13
In der Handschrift Donaueschingen B V 13 konnten nun drei unterschiedliche Wasserzeichenmotive ausgemacht werden: erstens zwei übereinander angeordnete Kreise mit darüber gesetztem Kreuz, zweitens eine Zange und drittens eine Birne mit zwei Blättern. Eines dieser Motive, und zwar die beiden Kreise mit Kreuz, begegnet in zweifacher, sehr ähnlicher, aber nicht identischer Ausführung als sogenannter Zwilling oder auch Formenpaar. Das Vorkommen solcher Formenpaare desselben Motivs geht auf die Verwendung von zwei parallel verwendeten Schöpfsieben während des Produktionsprozesses zurück.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Datierung eines Wasserzeichens bzw. des Papiers auf der Grundlage von Vergleichsbelegen erfolgt. Nun wurde im 14. Jahrhundert, d. h. in der Frühzeit des Papiergebrauchs in Europa, Papier noch nicht in solch großen Mengen verwendet. Der neue Beschreibstoff musste sich erst etablieren und war, bevor er in immer größeren Massen produziert wurde, auch noch nicht wesentlich günstiger als Pergament. Damit steht für diese Frühzeit noch kein sehr dichtes Netz an Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung, weswegen die Datierung auf Basis von passgenau sicheren Belegen nicht immer möglich ist. Die für das 15. Jahrhundert fast übliche Genauigkeit, mit der eine Datierung auf plus/minus 2 Jahre vorgenommen werden kann, ist für das 14. Jahrhundert selten.
Doch im Fall des kleinen Donaueschinger Bands ließen sich, obwohl er augenscheinlich aus dem 14. Jahrhundert stammt, für alle vorkommenden Wasserzeichen erstaunlich gute und aussagekräftige Vergleichsbelege ermitteln. Für das Formenpaar mit den übereinander angeordneten Kreisen und dem darüber gesetzten Kreuz liegt ein außerordentlich gut passender, ja fast identischer Beleg aus dem Jahr 1336 vor, außerdem zwei ähnliche Belege aus den Jahren 1334 und 1339. Für das Zangen-Motiv konnten sogar drei sehr gut übereinstimmende Belege ermittelt werden, die alle aus dem Jahr 1338 stammen. Für das Birnenwasserzeichen ließen sich zwar keine exakten Belege nachweisen, doch geben hier Größe und Anordnung der einzelnen Bestandteile, wie Fruchtkörper, Blätter und Ring, Aufschluss über die wahrscheinliche Datierung: So hat der Ring, von dem Birne und Blätter ablaufen, in Don B V 13 einen auffallend großen Durchmesser. Solche großen Ringe sind charakteristisch für die frühen Wasserzeichenbelege dieses Motivs aus der Zeit von ca. 1330 bis 1350.
4. Eine der ältesten deutschsprachigen Papierhandschriften
In der Zusammenschau machen es die Wasserzeichenbelege also mehr als wahrscheinlich, dass die Handschrift Donaueschingen B V 13 in der zweiten Hälfte der 1330er Jahre entstanden ist. Hierzu passt im Übrigen auch der Schriftbefund sehr gut: Der Schreiber der Handschrift verwendete eine einfache Textualis, eine Schriftart, die vom 13. bis 15. Jahrhundert im Gebrauch war und durch auf der Grundlinie rechtwinklig umgebrochene Buchstaben charakterisiert ist. Die vom Schreiber verwendeten Buchstabenformen sind dabei noch ganz der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verpflichtet, fast sogar dem Schriftgebrauch des ersten Jahrhundertviertels: Beispielsweise sind die Hasten und Schäfte, d. h. die senkrecht verlaufenden Teile der Buchstaben, zwar ganz regelmäßig auf der Grundlinie spitz- bzw. rechtwinklig umgebrochen, es fehlen jedoch häufig doppelte Brechungen. Obwohl der a-Bogen regelmäßig über das Mittelband reicht, ist er noch völlig rund und es fehlen ihm stärker gebrochene Elemente, wie sie das kastenförmige a in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts par excellence aufweist. Der untere Bauch von d und b bricht sowohl noch spitzwinklig als auch bereits rechtwinklig auf der Grundlinie um, eine Übergangserscheinung, der man in den Jahren etwa zwischen 1315 und 1340 häufig begegnet. Regelmäßig erscheinen i-Striche bei Verwechslungsgefahr mit den Hasten von u, n, r oder m; Ansätze von i-Punkten, die ab den 1330 bis 1340er Jahren erwartbar wären, sucht man dagegen vergeblich.
Gegenüber dem bisherigen Kenntnisstand zum Codex bedeutet die neue Datierung einen erheblichen Zugewinn. Lange wurde der Band in die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert gesetzt. In den letzten Jahren wurde eine Datierung der Handschrift zwar in die Mitte des 14. Jahrhunderts vorgeschlagen (siehe den Eintrag im Marburger Repertorium), jedoch ohne genauere Begründung. Die sichere Datierung auf die Jahre um 1335 bis 1340 bedeutet aber, dass mit der Handschrift ein besonders frühes Zeugnis für die Abschrift eines vollständigen Codex in deutscher Sprache auf Papier vorliegt. Die frühesten lateinisch-deutschen Mischhandschriften auf Papier sind zwar bereits für die 1330er Jahre belegt (zum Beispiel der Münchner Clm 4350, ein lateinisch-deutsches Hausbuch, oder die Prager Handschrift Cod. Osek 18, die neben überwiegend lateinischen Texten auch eine Übersetzung des Hohelieds ins Deutsche enthält). Die bisher älteste datierte Handschrift, die vollständig in Deutsch auf Papier geschrieben wurde, ist der ebenfalls in München aufbewahrte Cgm 717 (Digitalisat), eine Sammelhandschrift geistlicher und weltlicher Stücke, wie Predigten, Gebete, Lieder oder Erzählungen, die auf das Jahr 1348 datiert ist.
Ganz sicher wird es wegen der bereits angesprochenen schlechten Beleglage für Wasserzeichen im 14. Jahrhundert weitere sehr frühe Papierhandschriften geben, die bislang noch nicht als solche erkannt wurden, da ihre Wasserzeichen bisher nicht eingehend untersucht wurden. Dennoch dürfte im Donaueschinger Band eine der frühesten deutschsprachigen Handschriften auf Papier zu greifen sein.
5. Und noch etwas.
Für die Papierforscherinnen und -forscher oder für die Handschriftenbearbeiterinnen und -bearbeiter ist natürlich allein die Tatsache, einen solch alten Papiercodex wie Donaueschingen B V 13 in der Hand zu halten, mehr als euphorisierend. Allerdings bleibt diese Besonderheit nicht einfach nur ein kurioses Faktum für die kleine Gemeinde der Papierhistoriker*innen. Denn die neu gewonnene Datierung hat auch literaturgeschichtliche Folgen: Mit ihr ergeben sich auch neue Hinweise auf den sogenannten Mönch von Heilsbronn. Er ist der Autor des Textes ‚Buch der Sieben Grade‘, der in der Donaueschinger Handschrift von Blatt 1r bis 90r überliefert wird. Bis dato sind über den Mönch von Heilsbronn nur wenige biographische Details bekannt, obwohl er im Spätmittelalter durchaus viel gelesen wurde: Eine Zeitlang nahm man an, er sei mit Konrad von Brundelsheim zu identifizieren, dem Abt des nahe Nürnberg gelegenen Klosters Heilsbronn in den Jahren 1303–1306 und 1317–1321. Diese Identifikation wurde von der Forschung jüngst abgelehnt, womit gesicherte Daten für eine Datierung der historischen Person wieder völlig fehlen. Mit der Handschrift Donaueschingen B V 13 kann nun wenigstens ein fester Terminus ante quem für die Entstehung des Erstlingswerks ‚Buch der Sieben Grade‘ und damit ein Fixpunkt für die Lebens- und Wirkungszeit des Mönchs von Heilsbronn benannt werden.