Wo Gruppenarbeitsräume „Parlatorium“ heißen
Stille, immer wieder Stille! Das ist ein Thema, zu dem wir während unseres Besuchs stets zurückkehren. Dafür tritt auch vehement die Fachreferentin Claudia Holland ein, die schon mal eine Etage tiefer in das große Bekleidungsgeschäft im Petersbogen geht, wenn dort die Musik zu laut schallt. Auf leisen Sohlen laufen wir durch die Bibliothek und spüren die konzentrierte Ruhe, ernten auch den ein oder anderen strengen Blick. Uns fällt auf, dass neben drei Gruppenarbeitsräumen vermehrt extra Ruhezonen eingerichtet sind, in denen auf die Benutzung von Laptops verzichtet werden soll. Die Gruppenarbeitsräume heißen hier „Parlatorium“ und tragen ihren Zweck somit im Namen. Sie sind die einzigen Räume, in denen gesprochen werden darf.
Das hat einen guten Grund. Wer Jura studiert, weiß nur zu genau, dass Prüfungen in diesem Fach eine ganz eigene Bedeutung zugemessen wird. Man gewinnt schnell den Eindruck, alles in dieser Bibliothek ist auf die Bereitstellung optimaler Arbeitsplätze fürs Lernen und die Prüfungsvorbereitungen ausgerichtet. Selbst überall verteilte Uhren fehlen nicht.
Es gibt Weiteres in der Bibliothek Rechtswissenschaft, das sie unique macht. Sie ist eine reine Präsenzbibliothek und wo an anderen Bibliotheken ausdrücklich darum gebeten wird, dass benutzte Medien nicht wieder selbständig ins Regal zurückgestellt werden, ist es hier erwünscht. Beides ist verständlich vor dem Hintergrund der Arbeitsweise von Juristinnen und Juristen. Viele verschiedene Bücher werden gleichzeitig zu Rate gezogen, dienen oft nur als kurzfristiges Nachschlagewerk. Die Zeit, die durch das Zurückstellen vom Personal verstreichen würde, fehlt anderen, die die Bücher benötigen. Hohe Anschaffungskosten ermöglichen es zudem in vielen Fällen, lediglich Einzelexemplare bereitzustellen. Gleichzeitig macht der Bedarf nach aktuellen Auflagen wichtiger juristischer Fachliteratur, wie beispielsweise dem Palandt, die Präsenzstellung der Bücher unabdingbar, die somit zu den Öffnungszeiten der Bibliothek für alle verfügbar sind. Die Zeiten, zu denen Bücher an Ketten gelegt worden sind, um sie vor möglichen Verzweiflungstaten Lernender zu schützen, sind jedoch glücklicherweise passé.
Die Öffnungszeiten! Sie erlauben es, den Nutzerinnen und Nutzern auch an Samstagen zu arbeiten. Schon zeitig, bevor die Bibliotheca Albertina ihre Öffnungszeiten erweiterte, wurden hier aufgrund des Bedarfs offene Samstage angeboten. Und dank des Engagements des Vereins zur Förderung der Juristenbibliothek Leipzig e.V. kommen mitunter, vor allem wenn es in die heiße Prüfungsphase geht, ebenso offene Sonntage hinzu. Der Freundeskreis bewirkt aber noch mehr. 1997 auf Initiative von Studierenden sowie Professorinnen und Professoren der Fakultät gegründet, leistet er insbesondere finanzielle Unterstützung für die Erwerbung von Fachliteratur.
Netzwerken 1.0
Auf diesem Gebiet befindet sich die Bibliothek in der Tat einer misslichen Lage: Wie auch in anderen Fachgebieten steigen die Preise für Fachliteratur seit Jahren an. Der zur Verfügung stehende Etat entwickelt sich jedoch in die andere Richtung.
So sind alternative Wege zur Beschaffung unabdingbar. Über die Jahre hinweg konnte ein weitläufiges und feingliedriges Netzwerk aufgebaut werden. Kurze Wege zwischen Fakultät und Bibliothek oder auch zwischen Kolleginnen und Kollegen qua Amt, wie jenen der Bibliothek des Bundesverwaltungsgerichts oder des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und langjährig gewachsene Kontakte zu ehemaligen Studierenden, die nun als Rechtsanwälte arbeiten, bewirken, dass der Bibliothek zahlreiche Buchspenden überlassen werden.
Es gibt, so Frau Holland, eine „hohe Abgabebereitschaft in der Leipziger Anwaltschaft. (…) Es hat sich rumgesprochen, dass wir alles nehmen.“ Koordinierend ist dabei der Förderverein tätig, dem die Bibliothekarinnen Titellisten mit der dringend benötigten Literatur weiterleiten. Der Gemeinsinn der Jurastudierenden, trotz aller Konzentration auf das Studium, ist also durchaus hoch. „Viele Nutzer betrachten die Bibliothek als ihr zweites Wohnzimmer. (…) Wir bekommen auch viel von ihnen zurück.“, ergänzt Frau Holland. So kann die Bibliothek auch mit einer Ausstattung von originalen Kunstwerken glänzen, der Gabe einer ehemaligen Studentin.
Trotz aller Verbundenheit testen – nicht wenig verwunderlich – die Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer aber auch ihr eigenes Können an den Mitarbeiterinnen der Bibliothek. Ob es nun um eine Brötchentüte geht, die mit in die Lesebereich genommen wird oder darum, wo das Verkehrsrecht aufgestellt ist. Frau Holland als ausgebildete Juristin bleibt bei Diskussionen solcher Art gelassen: „Ich muss zur Kenntnis geben, dass ich auch Ahnung habe, dann ist es gut.“
Von Nachtbars, Theologen und Kinos
Und was haben Nachtbars, Kinos, Theologen und Juristen gemeinsam? Allesamt teilen oder teilten sich bereits ein gemeinsames Domizil.
Die Geschichte der Bibliothek Rechtswissenschaft ist durchaus bewegt. Als eine der ältesten Fakultäten besteht die Rechtswissenschaft seit der Gründung der Universität Leipzig im Jahr 1409. Bis zum 3. Dezember 1943, dem verhängnisvollen Datum an dem das Leipziger Stadtzentrum durch einen großen Bombenangriff stark zerstört wurde, hatte die Fakultät ihren Sitz am Burgplatz. An jenem Tag wurde auch das ehemalige Gebäude der Juristenfakultät komplett zerstört. „Nur die Bücher, die die Professoren damals ausgeliehen hatten, haben überlebt. (…) Also 200, 300 Stück. Alles andere war weg.“, so Frau Holland. Zu DDR-Zeiten unterhielt die Universität eine sozialistische Sektion Rechtswissenschaft mit Sitz im Uniriesen. Die ehemals zur juristischen Fakultät gehörende Seminarbibliothek und ihre noch vorhandenen Bestände wurden in die Universitätsbibliothek, der damaligen ZW1, überführt. Viel Platz wurde zu DDR-Zeiten für juristische Bestände allerdings nicht benötigt. Ein „gut ausgestatteter Bereich DDR-Recht war ein größeres Wohnzimmer. Es gab einen Zivilrechtskommentar, ein Lehrbuch, ein Handbuch, genauso zur Verfassung, zum Strafrecht (…) und das war’s. Wenn Monografien veröffentlicht wurden, dann immer nur von einem Autorenkollektiv.“, erzählt sie weiter.
Im Oktober 1993 fing die Bibliothek Rechtswissenschaft nach der Wiedererrichtung der Fakultät am Dittrichring quasi bei null an. Hier, wo noch vor kurzem die Nachtbar Femina, ein Hotspot der Leipziger Nachtschwärmer, seinen Gästen Tanz, Getränke und einen Springbrunnen angeboten hatte, reihten sich nun juristische Fachbücher in nüchternen Regalen. „Da wo getanzt wurde, hatten wir dann das Zivilrecht stehen.“ Mit dem neuen Jahrtausend zog dann die Theologische Fakultät in die Räumlichkeiten.
Seit 15 Jahren ist die Bibliothek nun im Zentrum der Stadt angekommen. Vom Trubel der Innenstadt ist hier drinnen wenig zu spüren. Und wer sich während der Prüfungsphase – wenn auch nur kurz – einmal aus der Realität verabschieden möchte, braucht nur die Etage zu wechseln und kann im dortigen Kino in einen Blockbuster eintauchen. Man könnte fast meinen, diese Besonderheit des Standorts sei ein gutgemeinter Service der Bibliothek, aber wir wollen uns nicht mit fremden Federn schmücken.
Text: Jana Braun
Fotos: Caroline Bergter