Der gute Geist der Bücher

Die Schenkung Dr. Christine Gölz an der Universitätsbibliothek Leipzig

Die Tage nach dem 24. Februar 2022 werden vielen Menschen, die in der einen oder anderen Weise mit Osteuropa verbunden sind, für immer in doppelt trauriger Erinnerung bleiben. Die Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf das gesamte ukrainische Staatsgebiet erschien vielen als kaum erträglich, waren und sind sie doch aufs Engste nicht nur beruflich, sondern auch persönlich mit diesen beiden und weiteren Staaten in diesem Teil der Welt verbunden. Die Osteuropawissenschaftler*innen in allen Disziplinen, von den Literatur- und Sprachwissenschaften über die Film- und Medienwissenschaften bis zur Geschichte, Politik und Kunst, wussten, dass an diesem Tag die Hoffnung auf einen baldigen Frieden endgültig und auf lange Zeit zerstört war.

Christine Gölz, Foto: Sophia Manns-Süßbrich

Es sollte noch trauriger kommen. Nur einen Tag später, ab dem 25. Februar traf uns eine weitere Nachricht: der Tod von Dr. Christine Gölz, Leiterin der Abteilung Wissenstransfer und Vernetzung am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, GWZO. Kaum zu glauben war, dass sie, die als stets Fröhliche, Tatkräftige und quasi „Hanna Dampf in allen Gassen“ engagiert und begeistert von Filmfestival zu Tagung und obskuren Veranstaltungen reiste, die immer wieder Menschen miteinander bekannt machte, die Freundschaften schloss und diese pflegte und mit einem umwerfenden Humor und einer zu Herzen gehenden Liebenswürdigkeit ihr Leben meisterte, sie – Sie war nicht mehr am Leben?

Die „Drähte“ der Telefone zwischen Ludwigsburg, Karlsruhe, Hamburg, Berlin, Leipzig, Moskau, Budapest und Baro de Sao Joao in Portugal und an vielen anderen Orten liefen heiß: Christines große leibliche und freundschaftliche Familie kam so zusammen, teilte sich mit und tröstete sich gegenseitig.  

Als ihre Familie später die Wohnung auflöste, in der sich zu Buchmessezeiten regelmäßig ein Großteil der Übersetzer*innen und Wissenschaftler*innen mit Schwerpunkt Osteuropa versammelte, stellte sich alsbald die Frage, was mit ihrer umfangreichen Bibliothek geschehen sollte. Nach einigen Überlegungen wurde eine Lösung gefunden: Ihre Bücher fanden in der Universitätsbibliothek (UB) Leipzig, in der sie oft und gern gearbeitet hat, ein neues Zuhause. Im April 2022 eingetroffen, konnte ein reichliches Jahr später das letzte Buch eingearbeitet werden.

Bücher bei der Einarbeitung, Foto: Sophia Manns-Süßbrich (2022)

Vor uns liegt nun eine individuelle und doch beispielhafte Sammlung. Beispielhaft für eine Wissenschaftlerin, die immer über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut hat. Sie hat andere nicht nur dazu eingeladen, mit ihr über diesen zu schauen, sondern durch Vernetzung neue Synergien erzielt. So entstanden neue Projekte, neue Freundschaften und damit neue Welten. Ihre Bibliothek ist breit gefächert, sie umfasst grundlegende Werke der allgemeinen und slavischen Sprach-, Literatur und Kulturwissenschaft. Einige der Titel waren bereits im Bestand der UB Leipzig vorhanden. Da es sich dabei jedoch um ein nutzungsstarkes Bestandssegment handelt, wurden die zusätzlichen Exemplare eingearbeitet und zerlesene Exemplare ersetzt. Aber auch seltene Kunstbände, Publikationen aus dem Russland der 1990er Jahre und viele andere wichtige Titel fanden sich unter Christine Gölz‘ Büchern. Hervorzuheben ist zuerst die „Achmatova-Sammlung“, die aus der Arbeit an ihrer Dissertation hervorging. „Anna Achmatova: Spiegelungen und Spekulationen“ erschien 2000 in der von ihrem Doktorvater Prof. Dr. Wolf Schmid begründeten Hamburger Reihe „Slavische Literaturen“.

Weitere Schwerpunkte der Bibliothek sind ost- und westslavische Filmwissenschaft: Christine Gölz war regelmäßig auf Filmfestivals, insbesondere denen in Frankfurt an der Oder und Wiesbaden. Und natürlich die tschechische und russische Literaturwissenschaft: Arbeiten zu Jachym Topol, der Band „Spielplätze der Verweigerung“, die Publikation „Die unerträgliche Leichtigkeit des Haiku“, die aus einer Ausstellung hervorging, und vieles mehr. Entsprechend findet sich Literatur zu diesen und noch vielen weiteren Themen in ihrer Bibliothek.

Heeg, GüntherReenacting history01A-2022-532012
Faulstich, WernerGrundkurs Filmanalyse01A-2022-541612
Sebald, W. G.Austerlitz01A-2022-473312
Campbell, JosephHeros in tausend Gestalten01A-2022-698013
Weber, IngeborgWeiblichkeit und weibliches Schreiben01A-2022-452714
Camus, AlbertFall01G-2022-607614
Martínez, MatíasEinführung in die ErzähltheorieEC 4500 M385 E314
Sontag, SusanLeiden anderer betrachten01A-2022-495614
Benjamin, WalterErzählen01A-2022-488115
McLellan, JosieLove in the time of communism01A-2022-664515
Han, Byung-ChulMüdigkeitsgesellschaft01G-2022-558715
Stanišić, SašaHerkunft01A-2022-708615
Schikowski, KlausComic01A-2022-503216
Bourdieu, PierreRegeln der KunstIE 1350 B76916
Barthes, RolandMythen des Alltags01A-2022-488017
Villa, Paula-IreneJudith Butler01A-2022-234918
Ehrenberg, AlainDas erschöpfte Selbst01A-2022-531119
Lahn, SilkeEinführung in die Erzähltextanalyse01A-2022-453322
Žižek, SlavojGewalt01A-2022-543123
König, Hans-DieterKultur-Analysen01G-2022-522929
Bereits über 300 der insgesamt knapp 1500 eingearbeiteten Exemplare wurden verbucht, viel mehr noch gelesen. Die Bibliothek wird also fleißig genutzt. Anbei eine Aufstellung der 20 am meisten genutzen Titel mit der Anzahl der jeweiligen Ausleihen.

Die ganze Liste der Publikationen von ihr im Bestand der Universitätsbibliothek finden Sie hier.

Bei der Einarbeitung fiel die große Zahl an persönlichen Widmungen auf, die alle bei der Katalogisierung erfasst wurden. Im Folgenden finden Sie eine sehr kleine Auswahl:  

  • Prof. Wolf Schmid: Doktorvater und berühmter Theoretiker der slavistischen Literaturwissenschaft.

Dies sind, wie gesagt, nur wenige von vielen Beispielen.

Alle Bücher sind mit den für die UB Leipzig typischen Exlibris in roter Farbe versehen. Die UB hat  in den letzten Monaten auch dankbare Kommentare von Nutzer*innen erhalten: viele, die Christine gekannt haben freuen sich nun, mit ihren Büchern zu arbeiten. Und das erkennen sie eben am Exlibris.

Größere Schenkungen werden mit dem Exlibris der UB Leipzig versehen. Nur die Farbe variiert. Hier wurde sich für rot entschieden, als Hommage an die Russische Avantgarde, deren Rot im Schriftbild und auf den Plakaten so prägnant war. Das Rot steht aber auch für Christines Lebendigkeit.

Ich möchte in aller erster Linie Christine Gölz selbst danken. Unsere gemeinsame Freundschaft, die mir so viel gegeben und bedeutet hat, führte als „Nebenprodukt“ im Sinne der Bibliothek zu vielen Literatur- und Anschaffungstipps. Aber ich möchte an dieser Stelle auch für die Bereitschaft der Direktion der UB Leipzig danken, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen und die Schenkung anzunehmen und so schnell zu bearbeiten.

Diese Entscheidung hat dazu geführt, dass diese Bibliothek jetzt für die Nutzung zur Verfügung steht, und die Lektüre der Bücher wird wieder weitere Publikationen, Projekte und womöglich Kontakte hervorbringen. Das hätte Christine Gölz sehr gefreut.

Dr. Christine Gölz wäre am 15. August 2024 60 Jahre alt geworden. Dieser Beitrag ist ihrer Familie gewidmet, der wir diese großartige Schenkung zu verdanken haben, und er ist auch ein Gruß an ihre Freund*innen: Ihre Bücher sind bei uns in guten Händen und geben ein wenig von Christines Geist weiter.

Zum Weiter- und Nachlesen:

Das Kondolenzbuch

https://www.leibniz-gwzo.de/de/institut/team/christine-goelz/kondolenzbuch

Die Ausgabe der Mitropa, der von ihr betreuten Zeitschrift des GWZO, die ihr gewidmet ist:

https://www.leibniz-gwzo.de/sites/default/files/dateien/Mitropa2021-22_WEB-komprimiert.pdf

Der Link zur Schenkung Dr. Christine Gölz im Katalog der Universitätsbibliothek Leipzig

https://katalog.ub.uni-leipzig.de/Search/Results?lookfor=provenance_txt_mv%3AG%C3%B6lz

Sophia Manns-Süßbrich (UBL)

Dr. Sophia Manns-Süßbrich ist Fachreferentin für Amerikanistik, Anglistik und Slavistik an der Universitätsbibliothek Leipzig.

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