Ulrich Johannes Schneider war der Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig von 2006 bis 2022.
Die lange Vitrine steht in einem dunklen Raum, ist schwach erleuchtet, ein geheimnisvolles Versprechen. Was man sieht, ist eine Schrift, die kaum jemand lesen kann, weil sie schon 3.500 Jahre alt ist und ins alte Ägypten gehört. Könnte man lesen, was auf 108 Kolumnen geschrieben steht, wären das Krankheitsbeschreibungen und Rezepte der antiken Medizin. Viele der Zutaten kennen wir heute nicht mehr, und wenn zum Verschönern der Haut oberägyptisches Salz verlangt wird oder Gu-Gras, dann stehen wir ratlos davor.
Die Vitrine zeigt eine Replik des Papyrus Ebers, einer fast 19 Meter langen Rolle, die der Ägyptologe Georg Ebers 1873 in Luxor erwarb und nach Leipzig brachte. Es ist die einzig vollständig überlieferte medizinische Handschrift der Antike. Das macht sie außergewöhnlich, ihre Länge ebenso. Wir haben ein Handbuch der Medizin vor uns, eine Enzyklopädie für behandelnde Ärzte, einen großen Wissensschatz.
Im Foyer unter der großen Treppe der Bibliotheca Albertina zeigt der Schauraum die Replik des Papyrus Ebers im aufgerollten Zustand. Das ist ungewöhnlich und entspricht nicht der historischen Verwendungsweise. Zur Zeit der Entstehung, 1.500 vor Christus, rollte man die Rolle von rechts nach links und las jeweils eine Kolumne in der Mitte, ganz ähnlich wie die Thora in der jüdischen Synagoge. Aber wir wollten nicht historische Verhältnisse rekonstruieren, sondern ein Kulturdokument ausstellen und zur Bewunderung einladen. Der Schauraum befindet sich in der Bibliothek, wo auch das Original verwahrt wird, wo eine Online-Präsentation den gesamten Text auf Deutsch und Englisch wiedergibt, wo Spezialisten sowohl für die digitale Präsentation wie auch für die Konservierung alter Schriftgüter arbeiten.
Doch wie kam es überhaupt zu diesem Schauraum? An einer Wand in der Ausstellung werden die Namen der Spenderinnen und Spender sowie der Sponsoren aufgelistet, die maßgeblich zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben. Einzelne Personen und Firmen haben die Universitätsbibliothek Leipzig dabei unterstützt, das Unternehmen zustande zu bringen, das über zwei Jahre in mehreren Etappen realisiert wurde: Zuerst der Kauf von neuem Papyrus als Beschreibmaterial für die zu entstehende Replik, sodann die Überlegungen, wie dieser zu bedrucken sei, anschließend Überlegungen zur Art und Form der Vitrine, die nicht nur schön und sicher, sondern auch für spätere Reparaturen im Inneren zu öffnen sein sollte, sodann der Bau der Vitrine selbst und die Einrichtung des Schauraums mit eigenem Beleuchtungskonzept und eigener Gestaltung.
Versuche, in Ägypten selbst möglichst sehr guten Papyrus zu erwerben, scheiterten. Wir griffen daher auf einen in Deutschland tätigen Händler zurück und kauften eine große Auswahl an Stücken. Diese sollten später dann zusammengeklebt werden. Künstler, die mit dem Siebdruck Erfahrung hatten, übernahmen das Drucken auf Papyrus, einer unebenen und damit für den Druck schwierigen Oberfläche. Man musste sehr genau aufpassen, dass die Farbe eindringt, aber nicht durchdringt, dass das Schwarze und das Rote in der Schrift dem Original möglichst treu erscheint.
Die Vitrine war das nächste große Problem: Wie sollte sie aussehen, damit der schwebende Charakter der Rolle gut zur Geltung kommt? Wie musste sie konstruiert werden, damit sie für den Boden nicht zu schwer ist? Würde der 1891 gebaute Keller direkt unter dem Schauraum die Last tragen können? Sicherheitshalber sah man von einem massiven Unterbau der Vitrine ab und fand eine andere Lösung. Der heutige Schauraum verdankt seine intime Atmosphäre zahlreichen bautechnischen Eingriffen, die Wände verschließen und Öffnungen verkleinern ließen. Damit wurde eine größere Dunkelheit erreicht, mit einer unmittelbaren Wirkung auf den Raum. Die niedrige Decke im Mittelteil und die Schrägen an beiden Seiten ermöglichen den Besucherinnen und Besuchern optische Ruhe und Konzentration. Viele Gestalter haben sich über den Schauraum und die Vitrine Gedanken gemacht. Am Schluss ist der Auftrag an W&V Architekten gegangen, die schon andere Umbauten in der Bibliotheca Albertina realisiert hatten.
Nun also ist die Dauerausstellung im Foyer der Bibliotheca Albertina erweitert um diesen Schauraum, der zwei Gänge verbindet, in denen fotografische Repliken andere Werke aus dem reichen Bestand des Hauses dokumentieren. Inzwischen gibt es einen Audioguide für die gesamte Dauerausstellung, der auch nähere Informationen zum Papyrus Ebers gibt sowie zu Georg Ebers, seinem Entdecker und erstem Kurator. Die Universitätsbibliothek Leipzig lädt ein, sich spazierend an den Bildern der Dauerausstellung zu erfreuen und bei Interesse vielleicht sogar zusätzlich die Website zu konsultieren, wo noch weiterführende Informationen aufbereitet sind. Die wissenschaftliche Bibliothek wirbt damit für einen großen Schatz, aber nicht nur mit der Betonung der Wichtigkeit, sondern mit der Herausstellung der Schönheit alter und ältester Schriftdokumente. Man sieht das Handgemachte, man kann die Anstrengung der Kompilation, des Aufschreibens erahnen und staunt vor dem Glück, dass diese Dokumente über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hinweg auf uns gekommen sind.
Zum Schluss ein Wort zu den zahlreichen Personen, die das große Vorhaben des Schauraum Papyrus Ebers ermöglichten. Sehr viel ist der Restaurierung der Universitätsbibliothek Leipzig unter Jörg Graf und seinen Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, auch der alte Kustos der Papyrus- und Ostrakasammlung der UB Leipzig, Professor Dr. Reinhold Scholl, war unermüdlich beratend, schreibend und Vorträge haltend tätig. Nicht zuletzt habe ich mich in meiner Funktion als Direktor der UBL darum bemüht, Geldgeber zu finden, mit dem Baudezernat der Universität ebenso zu kooperieren wie mit dem Denkmalschutz und dem Staatlichen Immobilien- und Baumanagement, damit am Ende ein schönes Ergebnis alle überzeugt. Nach den Stimmen der bisherigen Besucherinnen und Besucher zu urteilen, ist das gelungen. Die UB Leipzig ist mit ihrer Dauerausstellung – begleitend zu den Wechselausstellungen, in denen nicht immer die allergrößten und allerwichtigsten Schätze ausgestellt werden können – einen Schritt auf die Öffentlichkeit hingegangen, der ihr hoffentlich auch in der Zukunft durch Interesse und Bewunderung entgolten wird.
Wer heute in die Bibliothek kommt, kann sich anhand der Schautafeln und des Raumes mit der Replik des Papyrus Ebers innerhalb weniger Minuten ein Bild von der Entwicklung des Gebäudes und den hier verwahrten Preziosen machen. Das ist ganz großartig und ich schleppe alle meine Besucher, denen ich die Stadt und das Musikviertel zeige, an diesen Ort. Was für eine gute Idee, Herr Schneider, und wie schön, dass die UB dieses Projekt umgesetzt hat.