Der Sommerkurs zur Handschriftenkultur des Mittelalters
Vom 17. bis 23. September 2017 fand der 6. Alfried Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur unter dem Titel „Handschriftenkultur des Mittelalters für Fortgeschrittene“ in der Bibliotheca Albertina statt. An dem durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und den Mediävistenverband e.V. geförderten und interdisziplinär ausgerichteten Kurs nahmen 21 Studierende und Doktorierende aus sieben Ländern teil.
Das Ziel des Kurses war es, den Teilnehmenden eine vertiefte Einführung in die vielseitige Arbeit mit mittelalterlichen Handschriften zu geben, sowohl durch Lehreinheiten mit mediävistischen Fachleuten als auch durch praktische Übungen und intensive Arbeit an den Originalen: Aus dem reichen Bestand der UB Leipzig wurde für den Kurs etwa ein Dutzend noch größtenteils unerschlossener Handschriften ausgesucht, die die Teilnehmenden in kleinen Gruppen bearbeiteten.
Handschriftenanalyse digital: Der Workspace Mirador@ubleipzig
Zum ersten Mal konnten die Teilnehmenden dieses Jahr ihre Ergebnisse in einer virtuellen Arbeitsumgebung generieren und festhalten. Der digitale Workspace Mirador@ubleipzig basiert auf der in Stanford und Harvard entwickelten Mirador-Viewer-Technologie sowie der Software Mirador@stanford und erlaubt es, Handschriftendigitalisate aus verschiedenen Quellen per IIIF-Manifest in einen persönlichen Workspace zu laden, sie mit Annotationen zu versehen und abzuspeichern. Bei all diesen Anwendungen handelt es sich um Open Source-Software.
Das ist eine ganz neue Technologie, die sich noch in der Entwicklung befindet. So konnten die Teilnehmenden sich im Sommerkurs nicht nur mit den mittelalterlichen Originalen vertraut machen, sondern erhielten auch Einblick in neuste digitale Werkzeuge für die Arbeit mit Handschriften. Zugleich konnten sie als erste Test-Nutzende des Workspaces wertvolles Feedback geben, das uns bei der Weiterentwicklung helfen wird.
Wie man den Geheimnissen einer Handschrift auf die Spur kommt
Im Gegensatz zu modernen Büchern, die uns auf dem Titelblatt Informationen zu Autor, Werk, Druckort und Erscheinungsjahr geben, müssen bei mittelalterlichen Handschriften in der Regel erst umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden, um herauszufinden, wann und wo sie entstanden sind. Auch Titel gibt es in der Regel keine, man muss also auch die in der Handschrift enthaltenen Texte identifzieren. Der einzige eindeutige Identifikator – sozusagen der Name – einer Handschrift ist ihre Signatur, in unserem Fall: Ms 349.
Diese Handschrift ist auf Pergament geschrieben. Um herauszufinden, wann sie entstanden ist, muss man die Schrift datieren – damit befasst sich die Paläographie. Nach zwei Input-Vorträgen am Montag von David Ganz (Cambridge) zu den karolingischen Schriften und Christine Glaßner (Wien) zu den gotischen Schriften machten sich die Kursteilnehmenden an die paläographische Analyse und Datierung der Handschriften. Im Fall unserer Handschrift Ms 349 ergab diese Analyse, dass die Handschrift in einer frühgotischen Minuskel geschrieben ist und im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden sein dürfte. Für die Datierung wichtige Buchstabenformen wurden von der Gruppe im Mirador-Workspace markiert:
Als nächstes Untersuchungsfeld wurde am Dienstag durch die Mitglieder des Handschriftenzentrums der UB Leipzig die Kodikologie vorgestellt. Sie befasst sich mit der Gestaltung des Codex, von den Lagen, aus denen er besteht, über die Seiteneinrichtung bis hin zum Einband.
Unsere Beispielhandschrift Ms 349 etwa besteht aus achtzehn Quaternionen, das heißt Lagen, die sich aus jeweils vier Pergament-Doppelblättern zusammensetzen. Am Ende der Lagen wurde eine Lagenzählung in römischen Zahlen von I-XVII eingefügt, damit die Lagen beim Binden nicht durcheinandergeraten.
Interessant ist bei dieser Handschrift auch der Einband. Es handelt sich um Holzdeckel, die mit Schweinsleder überzogen wurden. Das Leder wurde mit Stempeln verziert. Diese Stempel wiederum, eine Rosette, ein Granatapfel und eine Lilie, kann man einer bestimmten Einbandwerkstatt zuweisen, nämlich der Werkstatt des Zisterzienserklosters Altzelle. Somit wissen wir, dass diese Handschrift im 15. Jahrhundert ihren heutigen Einband in Altzelle erhielt.
Am Mittwoch gab es eine Lehreinheit zum Buchschmuck von Kathrin Müller (Berlin) und einen Vortrag zur Bestimmung von regionalen Schreibsprachen von Wolfgang Beck (Jena). Die Schreibsprachenbestimmung ist ein gutes Mittel zur Lokalisierung von Handschriften, man kann sie aber nur bei volkssprachigen Texten anwenden. Da in unserer Beispielhandschrift nur lateinische Texte enthalten sind, kann hier keine Schreibsprachenbestimmung vorgenommen werden. Wir haben aber Buchschmuck: Jeweils zu Beginn von Textabschnitten sind so genannte Silhouetteninitialen eingefügt. Der Stil der Initialen passt auch zu unserer paläographischen Datierung ins 13. Jahrhundert und ist typisch für zisterziensische Buchmalerei. Wir haben also sowohl einen Hinweis auf die Datierung als auch auf das mögliche Entstehungsumfeld – ein Zisterzienserkloster – erhalten. Vielleicht ist die Handschrift sogar in Altzelle selbst entstanden. Um das verlässlich sagen zu können, wären aber noch weitere Spezialuntersuchungen nötig.
Nun wissen wir bereits, dass die Handschrift im 13. Jahrhundert entstanden ist und im 15. Jahrhundert in Altzelle gebunden wurde. Außerdem findet sich in der Handschrift selbst auch ein Besitzvermerk aus diesem Zisterzienserkloster, der um 1420 angebracht wurde:
Bücher haben oft eine bewegte Geschichte, je nach dem, wo sie entstanden sind und wo sie sich später befanden, zum Beispiel in Adels- oder in Klosterbibliotheken, die durch Erbvorgänge, historische Verwicklungen und Katastrophen zerstreut und teilweise zerstört wurden. Über die Schicksale von Büchersammlungen berichteten und debattierten am Donnerstag Vormittag in einem Round-Table-Gespräch Martina Backes (Freiburg/Fribourg), Falk Eisermann (Berlin) und Christoph Mackert (Leipzig). Unsere Handschrift Ms 349 hat eine vergleichsweise ruhige Geschichte: Sie verblieb in Altzelle, bis im Zug der Reformation die Klöster aufgehoben wurden, und kam dann in den 1540er Jahren in die neu gegründete Bibliothek der Universität Leipzig, wo sie seither aufbewahrt wird, wie auch dieser Stempel aus dem 19. Jahrhundert zeigt.
Aber was steht denn nun eigentlich in der Handschrift? Die Gruppe, die sich mit dem Codex befasst hat, hat verschiedene Texte identifizieren können: Den Hauptteil macht ein theologischer Traktat von Beda Venerabilis, einem Autor aus dem 7./8. Jahrhundert, aus. In einem zweiten Teil folgen weitere Texte Bedas, aber auch ein zur Entstehungszeit der Handschrift noch recht neuer theologischer Text, Richards von St. Viktor ‚De XII patriarchis‘, der vor 1162 entstanden ist. Es könnte sein, dass ein Abt der Zisterzienser diesen Text vom Generalkapitel des Ordens in Frankreich, zu dem er jeweils reiste, ins abgelegene Altzelle mitgebracht hat.
Rahmenprogramm: Gesungene Neumen und rezitierte Merseburger Zaubersprüche
Neben der vielseitigen und spannenden Arbeit mit den Handschriften gab es noch zwei besondere Höhepunkte in dieser Woche:
Am Mittwochabend fand ein Vortrag zu Musiknotation und Liturgie statt, bei dem Agnieszka Budzińska-Bennett und Hanna Järveläinen (ensemble Peregrina, Schola Cantorum Basiliensis) nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesang dem Publikum die mittelalterliche Musik näher brachten.
Am Donnerstag Nachmittag gab es eine Exkursion nach Merseburg, wo wir bei Markus Cottin in der Domstiftsbibliothek zu Gast waren. Dort konnten wir nicht nur einer Rezitation der ‚Merseburger Zaubersprüche’ durch Wolfgang Beck lauschen, sondern auch vier Merseburger Handschriften gemeinsam untersuchen und dabei das im Kurs gelernte und erarbeitete Wissen anwenden.
Am Freitagnachmittag und Samstagvormittag präsentierten die Kursteilnehmenden dann ihre Ergebnisse, die sie im Lauf der Woche erarbeitet hatten. Es war beeindruckend, wieviele Entdeckungen in dieser kurzen Zeit gemacht wurden. Zum Schluss gab es eine Feedback-Runde, bei der die Teilnehmenden ihre Eindrücke schildern und auch Kritik anbringen konnten. Die Rückmeldungen waren insgesamt sehr positiv, sowohl die Konzeption des Kurses als auch die Betreuung fanden große Zustimmung. Zudem wurden auch wertvolle Verbesserungsvorschläge und Anregungen geäußert, die wir bei der Planung des nächsten Kurses einbeziehen werden. Etwas ermüdet von der intensiven Woche, aber mit vielen neuen Eindrücken und Ideen im Kopf machten sich die Teilnehmenden dann am Samstag Nachmittag auf den Heimweg.
Weitere Impressionen zum Handschriftenkurs 2017 sind auf Twitter und Instagram zu finden: