Es war einmal im Fürstenzimmer

oder: von minne und Liebe

Es gab einmal eine Zeit, in der nicht Corona unser Leben bestimmte und in der auch nicht Brandschutzbaumaßnahmen in der Bibliotheca Albertina die Oberhand hatten. An diese nichtgraue Vorzeit erinnere ich, denn das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, wie die Literaten richtig schreiben.

Das Handschriftenzentrum in Leipzig ist für uns als Lehrende, nicht nur der germanistischen Mediävistik, ein unglaublicher Zugewinn. Denn wir können (früher zumindest konnten wir) die historischen Bestände als originale Quellen, nicht nur als Digitalisate, in unseren Unterricht einbeziehen und die bei den Studierenden oftmals unbeliebten Lektüren mittelalterlicher Texte durch den Blick auf originale Handschriften und deren Geheimnisse auflockern. Ich habe es mir zur Gewohnheit werden lassen, mit den Einführungskursen im Sommersemester stets auch eine Seminarsitzung zu konzipieren, die im Fürstenzimmer der Albertina stattfand, in der wir um den schweren Holztisch saßen und uns von Christoph Mackert oder von Katrin Sturm Handschriften aus dem Bestand der UB zeigen und erläutern ließen. Mittelalterliche Literatur wurde dadurch sichtbar und riechbar, ganz vorsichtig auch berührbar.

Das Leipziger Handschriftenzentrum (Gruppenphoto 2018) mit seinem Leiter Christoph Mackert (links)

In einem Einführungskurs der Vor-Corona-Zeit, im Sommer 2019, haben wir Konrads von Würzburg Herzmaere-Text aus dem 13. Jahrhundert gelesen, an ihm das Mittelhochdeutsche eingeübt und die Besonderheiten des mittelalterlichen Erzählens kennengelernt. Der Text bietet uns eine Geschichte von wahrer Liebe; beispielhaft und auf schöne Weise soll hier von der minne erzählt werden – jedoch entwickelt sich das Ganze auf ein tödliches Ende hin: die Liebenden sterben an der Liebe. Eine Herzoperation wird vorgeführt, dem toten Liebhaber, der aus Sehnsucht zu seiner fernen Geliebten verstorben ist, wird das Herz entnommen, einbalsamiert und in ein Minnekästchen gelegt, es soll das Erinnerungsgeschenk für seine Geliebte sein. Doch es gelangt in anderer Form zu der Frau, als beabsichtigt war. Der eifersüchtige Ehemann fängt den das Minnekästchen transportierenden Knecht ab, nimmt das Herz an sich und lässt es von seinem Koch als feine Speise für die Frau zubereiten. Der Ehemann setzt seiner Frau, die ihn mit dem Liebhaber betrogen hatte, das zubereitete Herz vor, sie verspeist es nichtsahnend, ist angetan davon und erkundigt sich, was es war: Stammt es von einem zahmen oder einem wilden Tier? Sie stirbt, als der Ehemann ihr die Wahrheit offenbart: Du hast gerade das Herz deines Liebhabers gegessen. Diese Botschaft lässt die Frau erstarren, ihre Hände sinken in den Schoß, sie stirbt. Sie wird nie mehr etwas zu sich nehmen.

Eine drastische Geschichte, die in dieser Version Konrads zeigt, wie exzentrisch und überspitzt pointiert, auch unchristlich, das als so fromm abgestempelte Mittelalter Geschichten erzählt.

  • Fürstenzimmer in der Bibliotheca Albertina

Die Leipziger Universitätsbibliothek besitzt unter der Signatur Ms Apel 8 eine Handschrift, die den Herzmaere-Text Konrads tradiert. Eine hervorragende Gelegenheit, um mit den Studierenden die Materialität von Texten zu erfahren. Eine Anfrage bei Christoph Mackert war sofort erfolgreich, selbstverständlich dürften wir kommen. Nicht alle Studierenden waren überzeugt, dass sie dieses Erlebnis mitnehmen mussten, aber ein Kreis von ca. 15 Teilnehmer_innen fand sich zu dem Termin im Fürstenzimmer ein.

Auf dem Wagen wurden mehrere Handschriften hereingefahren, auch Ms Apel 8 war dabei. Katrin Sturm hatte die Präsentation übernommen. Zuerst kritische Blicke, noch wussten die Studierenden nicht, was sie davon halten sollten. Schaumstoffkeile wurden aufgebaut, die kleinformatige und 390 Blatt starke Handschrift darauf gebettet. Von 1885 bis 2004 war deren Verbleib unbekannt, sie war also nicht in die gängigen Textausgaben eingegangen, der Codex galt als verschollen, nun hatten wir ihn leibhaftig vor uns!

  • Beginn der Handschrift Ms Apiel 8: Vorderspiegel und Blatt 1r

Aber es dauerte noch eine Zeitlang, bis wir beim Herzmaere waren, denn Katrin Sturm erzählte uns eine ganze Reihe hochinteressanter Dinge über ihre Arbeit im Handschriftenzentrum, über das Katalogisieren von mittelalterlichen Handschriften und auch über das vor uns liegende Buch. Die Studierenden sahen, dass ein Stück Geschichte vor uns lag, das es zu entziffern galt, das Besitzer hatte, die man an Kleinigkeiten wie Besitzeinträgen entdecken kann, an Federproben, die wir erst für Gekritzel hielten.

Ms Apel 8, Blatt 3v

Die Handschrift stammt aus dem Jahre 1512. Katrin Sturm zeigte uns auf Blatt 128v einen Eintrag, das Datum und eine Signatur B.M. Ein Rätsel?

Kolophon: Ms Apel 8, Blatt 128v (Bildausschnitt)

Das Buch, das hier auf dem Tisch lag, gehörte im 19. Jahrhundert dem Märchen- und Sagensammler Ludwig Bechstein (1801–1860), der in Meiningen als Bibliothekar und Archivar tätig war (Mackert 2004, 486), weswegen es in der Forschung als Bechsteinsche Handschrift kursiert. 

Sie bietet zu Beginn (Blatt 1r-2v) sogar ein Register. War dort unser Herzmaere verzeichnet? Wir suchten. Sahen uns vorerst mit der Schrift des 16. Jahrhunderts konfrontiert.

  • Register: Leipzig, UB, Ms Apel 8, Blatt 1r

Gelächter. Nichts zu entziffern. Dann aber doch mit einiger Hilfestellung: Register vber das gantz buch, so steht am oberen Rand. Wir fanden dann auch das Folgende: Der hertz spruch lxxxix.

Registereintrag zum Herzmaere: Ms Apel 8, Blatt, 1v (Detail)

Wiesen die römischen Ziffern die Blattzahl aus, auf der ‚der Herzspruch‘, wie das Herzmaere hier betitelt war, zu finden sei? Frau Sturm blätterte an die Stelle, gepolsterte Bleischnüre wurden zur Beschwerung auf die Seiten gelegt, wir hatten den Anfang des Maeres vor uns. Wir erkannten, dass Texte sich ändern, dass das Herzmaere, wie es in unserer Textausgabe stand, hier in einer originalen Handschrift des 16. Jahrhunderts irgendwie anders aussah. Vorsichtiges Entziffern des Textbeginns. Dann die ersten neugierigen Blicke, denn in der Handschrift war regelmäßig etwas durchgestrichen. Warum? Was war durchgestrichen: vor allem ein Wort fiel uns auf, das mittelhochdeutsche Wort minne wurde stets korrigiert. Darüber oder an den Rand wurde das Wort libe gesetzt. Wir sahen also, dass der Text Konrads zwar im Jahre 1512 noch interessant war, dass er abgeschrieben wurde und auch gelesen, dass man aber eingriff in den Wortlaut.

Der Textanfang lautete in der Textausgabe: Ich prüeve in mîme sinne / daz lûterlîchiu minne / der werlte ist worden wilde. (‚Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass reine Liebe der Welt fremd geworden ist‘). Darüber hatten wir im Seminar gesprochen. Doch was stand hier in der Handschrift? Ich bruef yn meines hertzen synn / Das lautterliche mynn … Das ist ein anderer Lautstand und auch Wortlaut als in der Textausgabe. Das lautterliche mynn ist intensiv durchgestrichen, etwas darüber eingetragen, rechts daneben ist libe gewin geschrieben. Der Textanfang lautet also:  Ich bruef yn meines hertzen synn / Das der libe gewin / Jn der welt ist so wilde. Das Ich erkennt, dass der Gewinn der Liebe in der Welt fremd geworden ist.

Beginn des Herzmaere: Ms Apel 8, Blatt 226v (Detail)

In der gesamten Handschrift hat ein Leser, ein Korrektor, vielleicht auch eine Leserin das Wort minne gegen libe verändert. Durchgestrichen und ersetzt. Das Wort minne ist im 16. Jahrhundert nicht mehr in gleicher Weise gebräuchlich und verständlich wie zu Zeiten Konrads.

„mynne“ durch „libe“ ersetzt: Ms Apel, Blatt 27v

Das war eindrücklich. Texte aus Text-Ausgaben haben ein Vor-Leben, sie werden nach ihrer ursprünglichen Niederschrift durch den Autor von anderen kopiert und korrigiert, mit weiteren Texten zusammengestellt. Texte haben mehrere Leben, Konrad von Würzburg dichtet die Geschichte und sie lebt in den Handschriften weiter, hier jedoch unter dem Blick von modernisierenden und korrigierenden Schreibern oder Lesern. Das war eine schöne Erkenntnis an diesem Sommernachmittag im Juni 2019. Außerdem ist es tröstlich, wenn Dinge ‚wiederauftauchen‘, wie dieser Codex, der im Mai 2001 bei einer Bestandsprüfung für ein Handschriftenzentrumsprojekt in den Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle a.S. ‚wiederentdeckt‘ und identifiziert wurde. Er kam aus dem Rittergut der Leipziger Patrizierfamilie Apel auf Ermlitz nach Halle und von dort in die Leipziger UB (Mackert 2004, 487).

Die Überlieferung der mittelalterlichen Literatur bis in die Gegenwart in der UB Leipzig nachvollziehen zu können, mit den Expert_innen des Handschriftenzentrums im Gespräch zu sein und dies mit der universitären Lehre unmittelbar verbinden zu können, ist ein Geschenk. Dafür möchte ich mich ganz herzlich beim Handschriftenzentrum bedanken. Mittelalterliche Literatur erhält dadurch auch für die Studierenden ein neues Gesicht.

In diesem Sinne wünsche ich dem Handschriftenzentrum alles Gute zum Geburtstag und hoffe sehr auf Zeiten, die es wieder zulassen, dass wir uns gemeinsam über Handschriften beugen, in Falze sehen, Fragmente entdecken, Texte, Einträge und Marginalien entziffern können, Wasserzeichen lesen lernen und vieles mehr!

Literatur:
– Handschriftencensus: https://handschriftencensus.de/3724
– Mackert, Christoph: Wieder aufgefunden. Bechsteins Handschrift der ‚Mörin‘ Hermanns von Sachsenheim und des sog. ‚Liederbuchs der Klara Hätzlerin‘, in: ZfdA 133, 2004, S. 486-488.

Prof. Dr. Sabine Griese ist Lehrstuhlinhaberin für Germanistische Mediävistik / Ältere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sie ist die erste Gratulantin innerhalb unserer Blogserie zum 20. Geburtstag des Handschriftenzentrums und schaut aus der universitären Perspektive auf das Leipziger Zentrum.

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