Hundert Tage im Amt …

… als Kustodin der Papyrus- und Ostrakasammlung

Nicht nur die Arbeitsgruppe Digitalisierung, auch die Papyrus- und Ostrakasammlung hat in diesem Jahr mit Frau Dr. Almuth Märker eine neue Leitung bekommen. Vielen innerhalb der Universitätsbibliothek Leipzig (UBL) ist Frau Märker natürlich gut bekannt, da sie bereits seit 2004 in verschiedenen Funktionen bei uns im Haus tätig ist.
Wir haben Frau Märker gefragt, ob es ihr möglich wäre, nach den ersten – sicher sehr ereignisreichen – 100 Tagen im Amt, eine Bilanz zu ziehen. Im folgenden Blogbeitrag beschreibt sie, wie sie sich in die neuen Aufgabengebiete eingearbeitet hat und was also alles dazu gehört, wenn man eine solche Sammlung zu verantworten hat.
Wir möchten auch im kommenden Jahr in loser Reihenfolge Kolleginnen und Kollegen vorstellen, die neue Positionen übernommen haben und damit einen Blick hinter die Kulissen unserer Häuser ermöglichen, die für unsere Nutzer im Alltagsbetrieb nicht immer ersichtlich sind.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Kustodin der Papyrus- und Ostrakasammlung wurde ich ins sprichwörtliche kalte Wasser geworfen. Noch keine fünf Minuten am neuen Schreibtisch, sozusagen noch bei den Sprechübungen für ein stolperfreies Hersagen der neuen Funktion, da ploppt eine Mail auf: Ich sei doch die Neue und so weiter, sie – die Absenderin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ägyptologischen Institut – habe von Herrn Prof. Scholl erfahren, dass ich jetzt zuständig sei. Nächste Woche finde doch im Vortragssaal der Albertina die internationale Konferenz für demotische Studien statt, ob ich am Dienstagabend bitte eine Führung machen und demotische Papyri und Ostraka präsentieren könne. ‚Ok …‘, dachte ich; das „O“ und das „k“ sehr lang gezogen und mit einem zögernden Frageausrufezeichen versehen. Während ich mich also noch fragte ‚Was war nochmal Demotisch?!‘, tippte ich schon die Antwort: „Sehr geehrte …, vielen Dank für Ihre Mail. Ich werde alles daran setzen, dass die von Ihnen geplante Abendveranstaltung stattfinden kann. Mit freundlichen Grüßen …“ Und so war es dann: Ich begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung, stellte mich ihnen in meiner neuen Funktion vor und lud sie zu einer Präsentation demotischer Papyri und Ostraka in den Forschungslesesaal ein.
Im Anschluss an dieses Initiationserlebnis hat sich in den letzten 100 Tagen ein facettenreiches Bild von Tätigkeiten entwickelt:

1. Die Amtsübergabe vom Vorgänger. Herr Professor Scholl übergab mir die Insignien, wobei Krone und Schwert heutzutage ja eher die Gestalt von Worddateien und Digitalisaten haben. Besonders wertvoll waren freilich die zahlreichen Tipps und Informationen, die Herr Scholl an mich weiter gab, und – nicht hoch genug einzuschätzen – die Bereitschaft, dass ich mich mit Fragen jederzeit an ihn wenden könne. Herr Scholl betreute die Papyrus- und Ostrakasammlung mehr als zwei Jahrzehnte lang und hat mit Hilfe von verschiedenen Projekten die Erschließung und Digitalisierung des Gesamtbestands erreicht. Sein Erfahrungsschatz ist überreich.

2. Die konservatorische Einführung in die Sammlung. Herr Graf, Leiter der Restaurierungswerkstatt der UBL, hat die Erschließungsprojekte der vergangenen 20 Jahre begleitet, ja ermöglicht. Er restaurierte und verglaste Hunderte von Papyri. Für die Ostraka entwarf er eine konservatorisch angemessene Unterbringung und setzte sie um. Zwischen ihm und mir, dem Restaurator und der Kustodin, gibt es eine klare Vereinbarung: Bei Benutzungsanfragen und im Fall einer Präsentation von Originalen in Seminarsitzungen oder Ausstellungen bereite ich die inhaltliche Seite vor; von ihm erfolgt die konservatorische Einschätzung. Originale werden also nach gemeinsamer Abstimmung und in beiderseitigem Einvernehmen gezeigt.

3. Kontaktaufnahme vor Ort. Mir war es wichtig, dass diejenigen in Leipzig, die in der Vergangenheit fachliche Bezüge zur Sammlung hatten, von der neuen personellen Situation direkt Kenntnis bekämen. (Eine Mail mit der bloßen Information war gleich zu Beginn über eine Papyrus-Mailinglist rundgeschickt worden.) Daher suchte ich nach Möglichkeit den persönlichen oder zumindest den personalisierten Mailkontakt. In dieser Arbeitsphase wurde mir einerseits bewusst, wie viele Bezüge im Umfeld von Universität, Akademie und Museen es in Leipzig zur Papyrus- und Ostrakasammlung gibt. Zum anderen ergaben sich interessante, erkenntnisreiche und darunter herzliche Gespräche. (Und nur aufgrund dieser Umstände gelang auch die Präsentation demotischer Papyri gleich in der zweiten Arbeitswoche; s. o.) Konkret gibt es folgende Verbindungen: zum Lehrstuhl Alte Geschichte, zum Fachwörterbuch (genauer dem „Mehrsprachigen Online-Wörterbuch zum Fachwortschatz der Verwaltungssprache des griechisch-römisch-byzantinischen Ägypten“ – hier traf ich eine langjährige Kollegin aus den Sondersammlungen wieder, die zahlreiche Papyri und Ostraka erschlossen hat), zum Ägyptologischen Institut, zum Antikenmuseum, zum Lehrstuhl für Neues Testament, zur Sächsischen Akademie der Wissenschaften mit einem ägyptologischen Projekt („Strukturen und Transformationen des Wortschatzes der ägyptischen Sprache. Text- und Wissenskultur im alten Ägypten“). Hinzu kommt der Kontakt zur Koptologie, dessen Lehrstuhlinhaber zwar in Berlin tätig ist, der sich aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Kontakte aber ohnehin regelmäßig in Leipzig aufhält. Aus diesem Gespräch zeichnen sich bereits erste Ergebnisse ab: die Publikation koptischer Papyri.

4. Kontaktaufnahme überregional. Ebenso wichtig wie die Kontaktaufnahme vor Ort war ein erster Austausch mit Kuratoren anderer Sammlungen. Über das Papyrus und Ostraka Projekt Halle-Jena-Leipzig (2003-2015) sind wir ohnehin mit den Sammlungen in Halle und Jena verbunden: Mit dem Verantwortlichen in Halle kam es zu einer Begegnung am Rande einer Tagung, der Sammlung in Jena und seinem Betreuer konnte ich im Rahmen einer Dienstreise begegnen. Der Kurator der Berliner griechischen Papyri an den Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, im Übrigen ebenfalls ein ehemaliger Leipziger Kollege, ließ es sich nicht nehmen, mich an meiner neuen Wirkungsstätte zu besuchen. Daraus ergab sich ein ausführliches, erkenntnisreiches und angenehmes Gespräch. Mit Köln, nach Berlin die nächstgrößte Sammlung in Deutschland, führte ich ein ausführliches Telefonat. Durch all diese Gespräche zog sich wie ein roter Faden die Frage nach der openness, d. h. des freien und ungehinderten Zugriffs auf die hochauflösenden Digitalisate im Netz. Um zu diesem – in Papyrologenkreisen zugegeben heiß diskutierten – Thema auch eine internationale Stimme zu hören, zog ich in Wien Erkundigungen ein. Die Antwort des dortigen Papyrologen war sehr aufschlussreich.

5. Universitätsrechenzentrum. Die Präsentation der Papyri und Ostraka erfolgt in der Datenbank auf Grundlage einer Softwarelösung, die sich MyCoRe nennt. Ihr Leipziger Entwickler lud mich zum Gespräch ins Rechenzentrum ein. Deutlich wurde hier, dass die Daten weiter gepflegt und also die Datenbank auch in Zukunft professionell betrieben werden muss. Die Direktion unterstützt dieses Ziel gegenüber dem Rektorat.

6. Präsenz der Sammlung in der Lehre. Durch jahrelange gute Praxis ist im Bewusstsein der Dozentinnen und Dozenten dieser Universität fest verwurzelt, dass die Präsentation von Originalen im Rahmen von Lehrveranstaltungen den Horizont von Studentinnen und Studenten erweitert, dadurch neue Fragestellungen möglich werden und ein materialbezogener wissenschaftlicher Diskurs befördert wird. Diese Möglichkeit wurde schon in den ersten Wochen genutzt, und zwar von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Seminare der Alten Geschichte und der Geschichte der Medizin in der Antike. Selbst der Lateinkurs eines Merseburger Gymnasiums reiste an, um die Grundzüge der Papyrusherstellung und unserer Sammlung zu erfahren.

7. Papyrus Ebers. Das Glanzstück der Sammlung schlechthin ist dieses ursprünglich mehr als 18 Meter lange, in 29 Tafeln verglaste, auf Hieratisch geschriebene, weltweit einzigartige, ca. 3.600 Jahre alte Dokument der altägyptischen Medizin. Der „Ebers“ ist trotz seines hohen Alters hervorragend erhalten. Genau diese Einzigartigkeit verpflichtet uns jedoch zu einem besonders bewussten Umgang mit den Tafeln. Mit Herrn Graf und in Absprache mit Direktion und Bereichsleitung habe ich folgendes Konzept entwickelt: Eine Tafel wird nur im allergrößten Ausnahmefall und ausschließlich vor entsprechendem Fachpublikum präsentiert. Der Papyrus Ebers ist kein touristisches Vorzeigeobjekt. Alle Interessierten können sich über https://papyrusebers.de einen digital brillanten Eindruck verschaffen. Diese klare Handhabung korrespondiert mit dem Antrag auf Aufnahme des Papyrus Ebers ins Weltdokumentenerbe, über den 2020 entschieden wird.

8. Kooperation. Der Lehrstuhl für Neues Testament plant ein Projekt zu historischen Zeugnissen von Judentum und Christentum („Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti: CJHNT“), das u. a. einige unserer dokumentarischen Papyri auswerten wird. Wir haben durch ein Unterstützerschreiben (einen sog. Letter of Intent/LOI) unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit zugesagt. Daneben ist mit dem Leiter des Handschriftenzentrums Herrn Dr. Mackert verabredet, in Bezug auf die Stücke zusammenzuarbeiten, die sich im Grenzbereich zwischen Papyrus- und Handschriftensammlung befinden. Zum Beispiel gibt es auf Pergament geschriebene Papyri (die trotzdem so heißen) und deren Entstehungszeit ins Mittelalter reicht: eindeutig ein Fall für die Handschriftendatenbank.

9. Betreuung von Reservierungen. In der Papyrologie ist es Usus, Papyri dann, wenn sie publikationswürdig (also lesbar und interpretierbar) erscheinen, persönlich zu reservieren. Diese Reservierungen werden auch in der Datenbank mitgeteilt. Nicht selten entsteht hier jedoch ein Publikationsstau, der mehr als zehn Jahre beträgt. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, in solchen Fällen durch gezielte, freundliche Nachfragen Bewegung in die Sache zu bringen. Für die dafür nötige Abfrage der Datenbank hat mir das Universitätsrechenzentrum seine Unterstützung zugesagt.

10. Benutzung. Anfragen auf Benutzung von Papyri oder andere Stücke unserer Sammlung werden von mir inhaltlich bearbeitet. Nach Rücksprache mit der Restaurierung stelle ich die Stücke für die Benutzung im Forschungslesesaal bereit und weise in die Benutzung ein. Derzeit haben wir beispielsweise dreitägigen Besuch einer Koptologin aus Paris. Oder: Für Mai hat sich für ca. drei Wochen ein Papyrologe aus Neapel angekündigt, der lateinische Papyri edieren wird.

11. Openness. Mit unserm Direktor, Herrn Prof. Schneider, bin ich intensiv am Punkt der Openness dran. Die Digitalisate sämtlicher Papyri und Ostraka unserer Sammlung, publizierter wie unpublizierter, sollen in absehbarer Zeit ins Netz gestellt werden.

12. Praktikum. Aus dem Besuch in Jena hat sich eine Praktikumsanfrage im Rahmen eines Masterstudiums ergeben. Der externe Student wird sich auf der Basis einer Praktikumsvereinbarung für sechs Wochen mit unserer Sammlung beschäftigen.

13. Publikationen. Weder heute noch morgen werde ich selbst einen Papyrus edieren, da es für die Einarbeitung in die Papyrologie als Wissenschaft Jahre braucht. Aber meine moderierende Aufgabe sehe ich darin, die Anzahl der erschienenen Editionsbände zu Leipziger Papyri und Ostraka zu erhöhen: Auf die Bände P. Lips. I (1906) und P. Lips. II (2002) könnte schon bald P. Lips. III mit koptischen Stücken folgen. Auch die Publikation von Papyri an anderen Publikationsorten befördere ich durch Eintrag in die Datenbank und Bereitstellen der Bilder. Gleich im Anschluss an eine Konferenz meldete sich beispielsweise ein Papyrologe aus Kopenhagen mit dem Vorhaben, einen unserer demotischen Papyri zu publizieren.

14. Lesenkönnen. Das Entziffern von Papyri ist eine echte Herausforderung, weil sie zu großen Teilen fragmentarisch überliefert sind: Der Papyrus ist beschädigt, abgebrochen oder durchlöchert, die Schrift darauf nur teilweise erhalten. (Im Übrigen kommt mir jetzt zugute, dass ich am Handschriftenzentrum in einem Projekt zur Erschließung von mittelalterlichen Fragmenten mitgearbeitet habe.) Als Methode beim Lesen eines Papyrus oder Ostrakons hat sich bewährt, eine gedruckte Lesung in Reichweite zu haben. Eins meiner Lieblingsstücke ist die 1442 (P. Lips. Inv. 1142), ein rechteckiges Zettelchen mit einem Einladungsschreiben für eine Hochzeit. Und auf 1358 (P. Lips. Inv. 1358) habe ich auf Anhieb κυριω μου … χαιρειν – „meinem Herrn … zum Gruße“ lesen können, den Anfang eines Briefes also. Ein kleiner persönlicher Erfolg.

Die Papyrus- und Ostrakasammlung der Universitätsbibliothek Leipzig umfasst ca. 7.300 Objekte: 5.600 Papyri und 1.650 Ostraka, hinzu kommen Stücke auf anderen Beschreibstoffen, wie Holz oder Pergament. Inzwischen habe ich schon 57 davon kennen gelernt. Es bleibt also ein weites Feld, dessen Sichtung und Bearbeitung ich mit Freude angehe.

Zur Autorin: Almuth Märker studierte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Klassische Philologie und legte mit dem Abschluss in den Alten Sprachen Latein und Griechisch den Grund für ihr neues Aufgabenfeld heute. Das Studium der Lateinischen Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Georg-August-Universität Göttingen schloss Frau Märker mit der Promotion ab. Das Referendariat befähigte sie zum höheren Dienst an Bibliotheken. Seit 2004 ist Frau Märker als Fachreferentin für Klassische Philologie sowie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum an der UBL tätig. Außerdem ist sie die Bestandsschutzbeauftragte unserer Bibliothek. Ihre Funktion als Kustodin der Papyrus- und Ostrakasammlung trat an die Stelle ihrer Mitarbeit am Handschriftenzentrum.

 

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