Wenn Maschinen von mittelalterlichen Wasserzeichen träumen

Autoren: Johannes Filter, Dr. Christoph Mackert, Leander Seige

Coding Da Vinci 2017

Auch in diesem Jahr hat sich die Universitätsbibliothek Leipzig wieder als Datengeber am Kultur-Hackathon Coding da Vinci beteiligt. Die von Wikimedia Foundation, Open Knowledge Foundation, dem Berliner Digitalisierungszentrum Digis und der Deutschen Digitalen Bibliothek durchgeführte Veranstaltung fand 2017 zum vierten Mal statt. Viele Bibliotheken, Museen und Galerien haben auch in diesem Jahr neue Datensätze unter freien Lizenzen bereitgestellt, um den zahlreichen KünstlerInnen, HackerInnen und DesignerInnen den kreativen Umgang mit den Daten zu ermöglichen. Die Universitätsbibliothek Leipzig hat diesmal ihre Sammlung digital aufbereiteter Wasserzeichen beigesteuert. Diese Sammlung wurde von Johannes Filter aus Potsdam genutzt, um neuronale Netze zu trainieren und mit Hilfe träumender Algorithmen digitale Kunstwerke zu erstellen.

Die Wasserzeichensammlung der UB Leipzig

Seit Beginn der abendländischen Papierproduktion im Italien des frühen 13. Jahrhunderts wiesen Papiere aus europäischer Herstellung Wasserzeichen auf: Motive, die als Drahtformen auf die Schöpfsiebe für die Papierherstellung aufgebracht wurden und im Gegenlicht sichtbar sind. Sie dienten als Hersteller- und Qualitätsmarken. Die Wasserzeichen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Papiere weisen eine enorme Vielfalt an Motiven und Formen auf. Von Ahornfrucht bis Ziehbrunnen reicht das Repertoire, das sich bei Flora, Fauna, menschlichen Figuren, Realien, Fabelwesen, geometrischen Figuren, Wappen, Schriftzeichen und Symbolen gleichermaßen bedient.

Der schnelle Verbrauch der Schöpfsiebe, die bei der Papierproduktion stark strapaziert wurden, führte zu einer raschen Abfolge von Siebgenerationen mit leicht variierten Drahtformen für die Wasserzeichen. Mittels Wasserzeichenanalyse lassen sich historische Schriftstücke auf Papier mit unbekannter Entstehungszeit sehr genau auf ca. plus/minus zwei Jahre datieren, oft helfen die Wasserzeichen auch bei der Lokalisierung von Handschriften, deren Entstehungsort in der Regel nicht angegeben ist.

Am Handschriftenzentrum der UB Leipzig wurde in den vergangenen 15 Jahren eine umfangreiche Sammlung von Wasserzeichenbelegen aufgebaut, die bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Handschriften in Durchzeichnung und Durchreibung angefertigt wurden. Sie bildet damit eine einmalige Datengrundlage für Papiere, die vor allem in Ostmitteldeutschland und den benachbarten Regionen in der Zeit vom 14. bis 16. Jahrhundert verwendet wurden.

Deep Ochsenkopf

In den vergangenen Jahren gab es im Bereich des maschinellen Lernens (Machine Learning) immense Fortschritte. Insbesondere auf dem Spezialgebiet des maschinellen Sehens (Computer Vision) zur Bildklassifikation mittels künstlicher neuronaler Netzwerke (Artificial Neural Networks oder auch Deep Learning) übersteigt inzwischen die maschinelle Performance die menschlichen Fähigkeiten zur Bilderkennung. Auf dem Gebiet Bildklassifikation geht es darum, Motive maschinell zu erkennen und zu bezeichnen. Um dies zu ermöglichen, müssen die neuronalen Netze zunächst mit einer großen Menge manuell ausgezeichneter Trainingsdaten angelernt werden. Man erhofft sich, dass die Netzwerke später ähnliche Objekte in anderen Bildern wiedererkennen. (Mehr Informationen u.a. hier)

  • Dreamed Image
  • Dreamed Image
  • Dreamed Image
  • "Rusalka" von Artur Märchen

Neuronale Netze sind komplexe mathematische Konstruktionen, deren innere Zustände für den menschlichen Beobachter nur schwer zu erfassen sind. Unter anderem das Projekt Deep Dream, welches 2015 bei Google entstand, versucht, die Zustände und Ergebnisse in neuronalen Netzen für den menschlichen Betrachter sichtbar zu machen. Bei Deep Dream geht es nicht mehr darum, Eingabebilder einfach nur als Trainingsdaten zu verarbeiten – stattdessen versucht der Algorithmus Strukturen bereits erlernter Objekte in neuen Bildern wiederzuerkennen und visuell zu verstärken. Legt man dem Algorithmus neue Bilder vor, übermalt und verstärkt er die Formen, die er in der Vergangenheit gelernt hat und die er in dem neuen Bild wiedererkennt. Dieser Prozess kann auch als Methode zur Erzeugung digitaler Kunst verstanden werden. (Mehr Informationen in einem TED-Talk von Google). Mit dieser eher künstlerischen als wissenschaftlichen Motivation hat Johannes Filter in seinem Projekt Deep Ochsenkopf die Software hinter Deep Dream auf die historische Wasserzeichensammlung der UB Leipzig angewendet.

Im ersten Schritt wurde das neuronale Netzwerk von ihm auf die Erkennung der Wasserzeichen trainiert. Aufgrund der verfügbaren Rechenkapazitäten und Datenmengen verwendete er als Basis ein neuronales Netz, das bereits für mehrere Wochen auf einen Pool von 14 Millionen Bildern (Imagenet) trainiert war. Darauf aufbauend konnte das vortranierte Netzwerk von ihm auf eine Auswahl von 21 verschiedenen Arten von Wasserzeichen spezialisiert werden. Schließlich war der Algorithmus in der Lage, den Wasserzeichen die richtigen Motivbezeichnungen mit einer Genauigkeit von über 95% zuzuordnen. Mit dem trainierten Deep Dream-Netzwerk konnte Johannes Filter es nun “träumen” lassen. Dafür benötigt der Algorithmus ein zufällig ausgewähltes Bild, auf welchem das neuronale Netz Strukturen wiedererkennen, verstärken und übermalen kann. Im vorliegenden Projekt verwendete Johannes Filter hierfür Werke der Sammlung “Kreuzberger Boheme” des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum in Berlin.

  • Dreamed Image
  • Dreamed Image
  • Dreamed Image
  • "Kreuzberger Frühstück" von Artur Märchen

Auf den Bildern kann man sehen, dass die grobe Hornstruktur der Ochsenköpfe von Deep Dream erlernt wurde.

Sammlung Kreuzberger Boheme

Das FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum machte zum Coding da Vinci Hackathon 2017 in Berlin insgesamte 417 Werke von 29 Künstlern und Künstlerinnen aus der „Kreuzberger Boheme“ verfügbar, u.a. von Artur Märchen, Kurt Mühlenhaupt, Christa Eichler und Herbert „Jimmy“ Weitemeier. Die „Kreuzberger Boheme“ war eine alternative Kunst- und Kulturszene, die sich in Berlin-Kreuzberg Ende der 1950er Jahre herausbildete und ihre Hochzeit in den 1960er und frühen 1970er Jahren hatte. Als Arbeiterbezirk am Rande West-Berlins war der Standort Kreuzberg gleichzeitig Programm: hart, direkt, gelegentlich grotesk, nah an den einfachen Leuten – das Gegenteil zur etablierten westdeutschen Nachkriegskultur. Kontext und häufig Gegenstand der Kunstwerke sind bestimmte Treffpunkte sowie die Menschen, die dort verweilten, sowie die Galerie Zinke, die Trödelhandlung von Kurt Mühlenhaupt, die Künstlerkneipe „Leierkasten“ und viele andere. In der Sammlung befinden sich Drucke, Zeichnungen, Gemälde und Collagen, die nun auch dauerhaft online unter freien Lizenzen verfügbar sind.

Coding Da Vinci Ost 2018

Auch 2018 wird es Kultur-Hackathons der Coding da Vinci-Reihe geben. Im April startet der Coding da Vinci Ost hier an der Universitätsbibliothek Leipzig, in Zusammenarbeit mit dem Open Knowledge Lab Leipzig und dem Institut für Digitale Technologien. Kulturinstitutionen aus den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind eingeladen, Datensätze unter offenen Lizenzen bereitzustellen, um kreativen Projektteams die Möglichkeit zu geben, neue Idee und Projekte zu realisieren. Weitere Informationen dazu unter codingdavinci.de/events/ost.

Zusätzliche Informationen und hochauflösende Bilder von Deep Ochsenkopf finden sich auf der Projektwebsite.
 

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