… unseren neuen (aber nicht unbekannten) Mitarbeiter im Handschriftenzentrum.
1. Herr Schollmeyer, wer sind Sie und woher kommen Sie?
Ich bin in Dresden geboren, aufgewachsen aber in Pommritz, einem Dorf in der Oberlausitz, in einer Art Kommune. Später ging ich in das Internat der Kapellknaben nach Dresden. 2008 bin ich zum Studium der Germanistik nach Leipzig gekommen. Seit gut einem Jahr bin ich nun Mitarbeiter für Datenredaktion im DFG-Projekt Handschriftenportal.
2. Was ist das Handschriftenportal-Projekt? Und was genau tun Sie dort?
Das Projekt, in dem ich angestellt bin und das die UB Leipzig gemeinsam mit der SBB-PK Berlin, der BSB München und der HAB Wolfenbüttel durchführt, hat die Neuentwicklung einer zentralen Datenbank für mittelalterliche und neuzeitliche Handschriften in Deutschland zum Ziel. Diese soll das bestehende System Manuscripta Mediaevalia ablösen und sowohl Text- als auch Bildinformationen (also Digitalisate) zu den Handschriften in einer ansprechenden, intuitiven und dem aktuellen Such- und Nutzerverhalten entsprechenden Form bieten. Ich bin zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen an den drei Partnerbibliotheken für die Bearbeitung und Aufbereitung der bisher vorhandenen Daten zuständig, die von Manuscripta Mediaevalia in das neue Portal übernommen werden sollen.
3. Wie kommt ein Germanist, also ein Geisteswissenschaftler, zu einem solchen doch recht IT-lastigen Projekt?
Wie es so oft ist, durch Zufall. Für das Mittelalter im Allgemeinen und alte Bücher in weitester Hinsicht habe ich mich schon immer begeistert. 2010 habe ich dann ein Praktikum am Handschriftenzentrum gemacht, bei dem ich für die Papieranalyse und Wasserzeichenabnahme von Leipziger Handschriften zuständig war. Anschließend war ich bis 2018 Hilfskraft am Handschriftenzentrum, wobei ich zunächst im Wasserzeichenprojekt arbeitete und später dann in mehreren Erschließungsprojekten tätig war. In dieser Zeit habe ich, insbesondere auf praktischer Ebene, unglaublich viel gelernt, was einem kein Studium bietet. Ich war v. a. für die Eingabe der in einem Textverarbeitungsprogramm geschriebenen Handschriftenbeschreibungen in die Datenbank von Manuscripta Mediaevalia mittels MXML (eine Auszeichnungssprache bzw. auch Software speziell für mittelalterliche Handschriften) und die Verknüpfung mit Normdaten zuständig und bin auf diese Weise in die Welt der IT vorgedrungen.
4. Welche Handschrift hätten Sie gerne selbst geschrieben? Welche gefällt Ihnen am meisten?
Ich habe meine Bachelorarbeit über ein anonymes, 20-zeiliges Liebesgedicht geschrieben, das als Nachtrag in der Lucan-Handschrift Ms 1285 überliefert ist, etwa um 1300 eingetragen wurde und Neumen enthält, also frühe Formen von Noten. Als ehemaliger Dresdner Kapellknabe hätte ich diesen Text selbst verfasst.
Am meisten gefällt mir als Protestant aber natürlich das 2017 neu entdeckte Fragment einer Chorhandschrift aus Wittenberg von um 1530, das wohl das früheste Zeugnis des reformatorischen Gesangs in Wittenberg ist. Aber auch die riesigen, 2015 in der UB digitalisierten Naumburger Chorbücher haben mich sehr beeindruckt.
5. In der UB und im Handschriftenzentrum gab es in den letzten Jahren zahlreiche Funde von ‚neuen‘ Handschriften bzw. Textzeugen, so zum Beispiel das „Heliandfragment“ (Leipzig, UB, Ms Thomas 4073) oder die deutsche Tugendlehre „Spiegel des Herzens“ (Stralsund, Stadtarchiv, HS 1049), die erst kürzlich im Projekt zur Erschließung von Kleinsammlungen in Ostdeutschland identifiziert werden konnte. Welche Handschrift muss noch gefunden werden?
Eine vollständig deutschsprachige Papierhandschrift, die in Leipzig oder Mitteldeutschland geschrieben wurde und älter ist als die Karlsruher Handschrift Donaueschingen B V 13. Diese wurde von meiner Kollegin Katrin Sturm neu auf um 1335 bis 1340 datiert und vor kurzem in einem eigenen Blogbeitrag vorgestellt; aber natürlich nur, wenn ich von der Leipziger Handschrift die Wasserzeichen abnehmen dürfte.
Alternativ ein Autograph Martin Luthers, der die leidliche Frage, ob und wie der Thesenanschlag 1517 stattgefunden hat, ein für alle mal beantwortet.
6. Sie arbeiten an den verschiedenen Enden des modernen Bibliotheksbetriebs (Altbestand und IT bzw. Datenkonversion): Sehen Sie sich als Schnittstelle, Mediator oder auch Übersetzer zwischen den verschiedenen Polen?
In gewisser Weise schon, obwohl ich natürlich nicht von Haus aus ein ITler bin, sondern das nötige Handwerkszeug erst hier im Handschriftenzentrum gelernt habe bzw. mir durch learning by doing angeeignet habe. Aber ich kann sowohl den ITlerinnen und ITlern nahebringen, wie eine Handschrift und eine Handschriftenbeschreibung funktioniert, als auch den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erklären, welche Auswirkungen einfache Änderungen innerhalb des Textes einer Handschriftenbeschreibung auf die Datenbankeingabe und damit auf die anschließende Präsentation und Auffindbarkeit im Netz haben können. Insofern stehe ich mit je einem Bein in beiden Bereichen, was mich auch immer wieder vor neue Herausforderungen stellt und mich dadurch ständig Neues lernen lässt.
7. Computer oder alte Schinken: Wovon brauchen Sie mehr Erholung? Und wie realisieren Sie diesen Erholungsbedarf?
Definitiv vom Computer, aber auch so manche eilig geschriebene Handschrift bereitet beim Draufschauen und Versuch, den Text zu entziffern, Augenschmerzen. Und auch die Abnahme von Wasserzeichen in der Dunkelkammer, die ich ja lange gemacht habe, kann bei manchen Handschriften sehr erschöpfend sein, wenn man in 25 verschiedenen Ochsenkopfwasserzeichen zu ertrinken droht. Es gab sogar eine Handschrift, die wegen ihres schlechten Zustandes, ihrer vielen Texte und ihrer unzähligen Wasserzeichen von uns allen den scherzhaften Spitznamen „Kummerhandschrift“ bekommen hat.
Meist erhole ich mich durch Sport (Schwimmen, Laufen, Fahrrad fahren, Bouldern), gute Musik bei einem Glas Wein oder in einem Konzert und vor allem beim Backen – es gibt’s nichts Entspannenderes!!!
Die Fragen wurden gestellt von Sophia Manns-Süßbrich und Katrin Sturm