Vom Mythos leben und nicht von der Stückzahl

Auszug aus dem Gespräch von Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider (UJS), Direktor der UB Leipzig, mit Barbara Kalender (BK) und Jörg Schröder (JS) vom MÄRZ Verlag. Die vollständige Fassung ist im Katalog unserer Ausstellung „Politische Literatur & unpolitische Kunst. 50 Jahre MÄRZ Verlag – 100 Jahre Karl Quarch Verlag“ (Ausstellung noch bis 3.11.2019) abgedruckt, erhältlich als Museumsausgabe in der Bibliotheca Albertina oder über den Leipziger Universitätsverlag.
Erleben Sie Barbara Kalender und Jörg Schröder live am 15. Oktober 2019 um 20 Uhr im Gespräch mit Jan-Frederik Bandel im Café Alibi, Bibliotheca Albertina. Der Eintritt ist frei.

UJS:  Meine erste Frage an Sie beide wäre, was Sie sich davon erhoffen, dass die Dinge jetzt in einer Bibliothek liegen, wo sie im Prinzip allen zugänglich werden. Was sollen die Leute in 30 oder 40 Jahren finden, wenn sie auf Ihre Sachen stoßen?

BK: Ich würde mich freuen, wenn sie etwas vom Leben in der Jetztzeit erfahren und zwar auch von der ökonomischen Seite, deshalb liefern wir die Einkommenssteuer und die Bankauszüge ein. So kann man erfahren, wie es wirklich war, und nichts wird beschönigt. Oft werden die finanziellen Probleme beim Erzählen über das Verlegen von Büchern einfach weggelassen. Nur ganz wenige Autoren wie z. B. Arno Schmidt haben darüber geschrieben.

JS: Ich möchte das ergänzen und sagen, dass in vielen Analysen über Literatur und Medien eben dieser Aspekt, den Barbara angesprochen hat, vernachlässigt wird. Das erinnert mich dann immer an den Disko-Nebel, der ja erfunden wurde, damit man nicht sieht, wie die Füße sich bewegen. Und Literatur ist ein weites Feld. Aber wenn man von Büchern redet, dann darf nicht fehlen: Bücher müssen nicht nur produziert, sondern auch bezahlt werden.

Eine weitere Hoffnung ist, dass gesehen wird, was wir an wichtigen Büchern verlegt haben, die keine Bestseller wurden. März war ein Verlag, der viele Bestseller produziert hat, aber eben auch bedeutende Bücher, die nur in kleinen Stückzahlen verkauft wurden, z. B. Kenneth Patchen, ein nordamerikanischer Autor, der ein großer Anreger war für die Beat-Literaten wie Kerouac und Ginsberg, aber auch andere Autoren wie Miller, Burroughs und so weiter. Patchen selbst erzielte nie große Auflagen. Lawrence Ferlinghetti, der jetzt 100 Jahre alt geworden ist, hat ihn zuerst verlegt in seiner City Lights Press in San Francisco. Ich bin auf Patchen gestoßen über Oswald Wieners Roman „Die Verbesserung von Mitteleuropa“, darin gibt es im Anhang eine interessante Liste von Literaturhinweisen. Wiener hat eben rare, tolle Sachen in seinem Roman verarbeitet. Und ich erhoffe mir, dass auch gesehen wird, welche Trouvaillen März verlegt hat.

UJS: Also die Breite der Produktion.

JS: Ja, die Breite der Produktion, die Vielfalt der Themen, aber auch technische Dinge, z. B. Belege von Druckvorstufen wie Muster alter Klischees, die wir in die Albertina eingeliefert haben.

Schröder und Kalender mit Rettungsdienst-Anzeige (1986).

UJS:  Wenn ich in dem Bestand die Breite der Produktion und auch den Alltag der Produktion mitkriege, dann entdecke ich Dinge, die dem Publikum, das sich orientiert an Veröffentlichungen und an dem, was in den Buchhandlungen ausliegt, bisher entgangen ist. Das sind also verborgene Dinge. Gibt es da welche, auf die Sie hinweisen möchten?

BK: Wir haben unsere Manuskripte eingeliefert und natürlich bewusst unseren ersten Mac dazugestellt. Das war ein Macintosh SE, der ist rar, solche Sachen fliegen ja meistens weg. Wir haben ihn 30 Jahre lang mitgeschleppt. Und jetzt sagen alle: „Oh, ihr habt den alten Mac noch!“ Wir haben diesen Computer aufbewahrt, damit man auch einmal die Technik sieht, damit so etwas nicht verloren geht.

UJS: Also die Produktionsmittel.

BK: Die Produktionsmittel. Denn ich glaube, Friedrich Kittler hat Recht mit seiner These, dass die Schreibwerkzeuge auch den Text beeinflussen.

JS: Dazu ist noch zu ergänzen, und vielleicht wird man es in hundert Jahren wieder entdecken, weil in der Zukunft die gegenwärtigen Zeitläufe vermutlich anders gesehen werden: Wir haben in Deutschland nämlich die erste Desktop-Publikation gemacht und zwar eine Produktion, die überhaupt erst möglich wurde, weil Apple Mitte der 80er Jahre diesen Computer und Adobe die entsprechende Software geliefert hat. 
Allerdings waren die Möglichkeiten damals, eine gute Typografie mit Desktop Publishing herzustellen, ziemlich begrenzt, deshalb hieß es ja auch scherzhaft: „DTP, Deppen tölpeln plöde.“ Trotz der Schwierigkeiten mit der neuen Technik haben Barbara und ich dann doch eine gelungene Typografie hingelegt — mit Tricks, die heute keiner mehr kennt.

BK: Das kann ich erklären. Es gab also diesen Mac SE, den die Albertina jetzt hat, und dazu ein Programm, das hieß PageMaker 3.0. Das war aus dem Amerikanischen übernommen, und es gab noch nicht die Rechtschreibreform — damals wurde ck noch in k-k getrennt, also z. B. Stuckdek-ken. In den ersten Folgen kamen unheimlich viele Stuckdecken vor oder das Wort drucken.

JS: Aber auch ficken!

BK: Auch ficken [lacht], gut. Das Satzprogramm Page-Maker konnte ein Wort mit ck nicht in k-k trennen, stürzte jedes Mal abrupt ab und nichts war gespeichert. Deshalb ließ ich den Text erst einmal im Flattersatz einlaufen, dann wurden Seite für Seite per Hand alle cks in k-k geändert. Erst danach konnte man den Text in Blocksatz umwandeln, trotzdem stürzte manchmal PageMaker ab, weil ich etwas übersehen hatte, dann musste ich wieder von vorne anfangen.

Zeichnung 2

JS: Für solche Fälle hatten sich die frühen Programmierer einen sogenannnten „Sad Mac“ ausgedacht.

BK: Sie haben zusätzlich Symbole entworfen, weil die neue Technik uns allen Spaß machte, es war nicht nur Arbeit, sondern auch eine Spaßgesellschaft. Also wir waren ein Mac-Club und hatten uns abgesprochen, wer welches Programm kauft. Dann kaufte einer dieses Programm und die anderen kriegten es gratis. Unterm Strich haben wir alle nur ein Programm bezahlt, hatten aber zehn zur Verfügung. Damals gab es noch kein Unrechtsbewusstsein.

JS: Aber du hast mich bei dem Sad Mac unterbrochen.

Zeichnung 1

BK: Jörg, zuerst gab es die Bombe. Wenn der erste Absturz kam, erschien auf dem Bildschirm eine rauchende Bombe, so in Comicmanier.

Und wenn die drei-, viermal vorgekommen war — und das war ein Leichtes bei den vielen cks — sozusagen als letzte Warnung, wenn die Bombe mehrmals gekommen war, gab es den Sad Mac. Dann wusste man: Mach nur so weiter, bald ist die Festplatte im Eimer.

Fotos: März Verlag

Caroline Bergter (UBL)

Caroline Bergter ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Universitätsbibliothek Leipzig.

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