Das DFG-Projekt zur Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften in der Badischen Landesbibliothek geht in seine dritte Runde
Von Luise Czajkowski und Katrin Sturm
Intro
Mitten im Schwarzwald liegt die kleine Residenzstadt Donaueschingen, heute vor allem bekannt für die hier entspringende Quelle der Donau und das am Ort gebraute Fürstenberg-Bier. Doch Donaueschingen war einst auch Ort der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen, in ihrer Blütezeit eine der größten und bedeutendsten Adelsbibliotheken in Deutschland. Die von den Fürstenbergern gesammelten Handschriften genießen international Bedeutung. Gerade für die Germanistik hat das Wort „Donaueschingen“ einen ganz besonderen Klang. Doch drohten diese einzigartigen historischen und literarischen Quellen seit den 1980er Jahren privat verkauft zu werden und damit für die Öffentlichkeit verloren zu gehen. Durch das Engagement des Landes Baden-Württemberg konnten sie jedoch 1993/1994 an die Landesbibliotheken in Karlsruhe (BLB) und Stuttgart (WLB) überführt werden, wo sie nun für die Forschung frei zur Verfügung stehen.
Dem staatlichen Ankauf ist es zu verdanken, dass wir am Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig zusammen mit der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe und der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart bereits in die dritte Phase des Projekts zur wissenschaftlichen Erschließung dieses so wichtigen Handschriftenbestands starten können. Die ersten beiden Projektphasen wurden von 1998 bis 2021 durchgeführt und widmeten sich einerseits poetisch-fachliterarischen Handschriften weltlichen und theologischen Inhalts (Bestandssegment A), andererseits Manuskripten mit geistlichen-theologischen Texten in Prosa (Bestandsegment B).
Projektabschnitt 1: Das literarische Segment der Donaueschinger Handschriften
Die Codices des literarischen Segments waren seit jeher v. a. in der mediävistischen Germanistik sehr gut bekannt und in der Forschung präsent. Zu den bekanntesten Stücken zählen ganz sicher das ‚Nibelungenlied C‘ (Cod. Donaueschingen 63), die ‚Wigalois-Handschrift‘ (Cod. Donaueschingen 71), die ‚Barlaam und Josaphat‘-Handschrift (Cod. Donaueschingen 73), der ‚Wasserburger Codex‘ (Cod. Donaueschingen 74), der ‚Liedersaal‘ (Cod. Donaueschingen 104) oder die ‚Donaueschinger Liederhandschrift‘ (Cod. Donaueschingen 120). Innerhalb des Neukatalogisierungsprojekts konnte der Forschungsstand auf der Grundlage moderner kodikologischer (d. h. auf die Materialität der Gesamthandschrift bezogene) Methoden überprüft und vielfach korrigiert werden. Dabei sind überraschende neue Erkenntnisse zu zahlreichen ‚scheinbar‘ (durch-)erforschten Stücken zu Tage getreten.
Beispielsweise konnte die Handschrift Cod. Donaueschingen 143, in der die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen überliefert, ist auf Grundlage der Wasserzeichen im Papier auf die Zeit um 1462 bis 1465 datiert werden. Damit erwies sie sich nicht nur als ältester Textzeuge der ‚Melusine‘, sondern rückt auch ganz nah an die Entstehung des Werkes selbst, die für 1456 angenommen wird.
Handschriften als Liebespfand
Darüber hinaus konnte im Projekt ein regelrechter Kriminalfall aufgedeckt werden: Die Bände Cod. Donaueschingen 70, 77 und 152 tragen grüne Franzbände des 19. Jahrhunderts und damit die typischen Bindungen, mit denen Joseph von Laßberg (1770–1855) seine Handschriften ausstattete.
Damit ist es eigentlich eindeutig, dass sie aus dem Vorbesitz von Laßberg stammen müssen. Nun finden sich allerdings im Cod. Donaueschingen 77 einige Marginalien, die nach Schriftvergleich eindeutig von Wilhelm Werner von Zimmern (1485–1575) zuzuordnen waren, womit die Bände eigentlich zum alten Fürstenberger-Bestand innerhalb der Donaueschinger Sammlung gehören müssten.
Diese überkreuzte – oder nicht zueinander passen wollende –Provenienzgeschichte ließ sich nur durch folgenden Tathergang erklären, den Christoph Mackert zum Ende des ersten Projektteils rekonstruieren konnte: Seit etwa 1813 hatte Joseph von Laßberg eine Liaison mit der Fürstin Elisabeth zu Fürstenberg, geb. Thurn und Taxis (1767–1822), der sich auch der Erwerb der Nibelungenlied-Handschrift auf dem Wiener Kongress verdankt. Die Fürstin hatte lange Zeit versucht, Einfluss auf das politische Geschehen nach den Napoleonischen Befreiungskriegen zu nehmen und eine Rücknahme der Mediatisierung des Hauses Fürstenberg zu erreichen. Bald änderte sich das politische Gefüge und ihr Sohn Karl Egon übernahm 1817 nach erlangter Volljährigkeit die Regentschaft. Daraufhin zogen sich die Fürstin und Laßberg ins Private zurück.
Sie stilisierten ihre Beziehung als Minne-Verhältnis; das Abschreiben von mittelalterlichen Handschriften bezeichnete Laßberg selbst immer wieder als Minnedienst an seiner Minne-Dame. Die dafür erforderlichen Handschriften waren zu einem Großteil in der Fürstenbergischen Bibliothek vorhanden. Während der Regentschaft der Fürstin hatte Laßberg dort bequemen Zugang; ab 1817 versuchte der Fürst dies mit Vehemenz zu unterbinden. Es ist davon auszugehen, dass die Fürstin nun als heimliche Übermittlerin der Handschriften, die somit zum Liebespfand wurden, tätig war.
Die Kodikologie der eingangs erwähnten drei Handschriften belegt, dass sie ursprünglich zusammengehörten und wohl in einem Band vereinigt vorlagen. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass Laßberg den ursprünglichen Band – der übrigens verschiedene Dichtungen mit Minnethematik enthielt – auseinandernahm, in drei Codices vereinzelte und diese jeweils mit einem für ihn typischen Einband versehen ließ, wohl um die Spuren der ursprünglichen Besitzer zu löschen. Ab 1818 erwähnt Laßberg übrigens die einzelnen Bände in seinen Briefen und bezeichnet sie als seine eigenen Handschriften, vorsichtig, aber dennoch deutlich identifizierbar.
Projektabschnitt 2: Von Gebetbüchern und anderen erbaulichen Handschriften
Im zweiten Projektabschnitt, es ging von 2015 bis 2021 um die theologischen Handschriften in Prosa, standen gänzlich andere Codices im Mittelpunkt der Untersuchung. Sie wiesen meist ein kleineres Format auf, häufig waren sie weniger aufwendig gestaltet. Vor allem stammten die Handschriften nur noch selten aus adligem Vorbesitz, sondern kamen viel häufiger aus süddeutschen Frauenklöstern vor allem in Schwaben und am Oberrhein an die Fürstenbergische Hofbibliothek. Diese Manuskripte befanden sich vor Projektbeginn weitgehend außerhalb des Blicks der Forschung. Entsprechend reich an neuen Ergebnissen war hier die Erschließung.
So zeigte der Wasserzeichenbefund, dass der mehr als 500 Paternoster-Gebete umfassende Cod. Donaueschingen 298 wohl um 1448 bis 1452 und damit noch zu Lebzeiten der Textautorin Magdalena von Freiburg (1407–1458) entstanden ist.
Das Gebetbuch Cod. Donaueschingen B V 12, das zwischen 1445 und 1450 geschrieben wurde, konnte als eine bislang unbekannte Arbeit der Buchmeisterin des Nürnberger Dominikanerinnenklosters Kunigund Niklasin identifiziert werden. Die Schwester war eine äußerst tatkräftige Schreiberin, die nach bisherigem Forschungsstand an der Produktion von über 20 Handschriften beteiligt war. Von ihr stammt u. a. auch der Bibliothekskatalog des Dominikanerinnenklosters St. Katharina. Dieser ist für uns heute eine wichtige Quelle für die Schriftproduktion des Klosters, das sich wie zahlreiche andere Frauenklöster der Bettelorden im 15. Jahrhundert der strengen Regelbeachtung (‚Observanz‘) angeschlossen hatte.
Ein besonderer Fund gelang mit der Handschrift Cod. Donaueschingen B V 13, die sich als die älteste auf Papier geschriebene Vollhandschrift in deutscher Sprache erwies (vgl. den Blog-Beitrag von Katrin Sturm ‚Alte Handschrift – Frühes Papier.‘).
In dem Fragment Cod. Donaueschingen B VI 9 konnte ein Ausschnitt aus dem sogenannten ‚Legendar des Marquard Biberlin‘ identifiziert werden, der auf der Grundlage von Schriftmerkmalen in die Zeit um 1315 bis 1325 zu datieren ist. Damit ist dieses Fragment noch einmal älter als der bisher älteste erhaltene Textzeuge des Legendars in der Handschrift Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S 451. Die Geschichte des Legendars muss also neu geschrieben werden.
Frauenschriften‘ im Mittelalter
Neben umfangreichen neuen Erkenntnissen zu Einzelhandschriften konnte aus dem Projekt heraus ein übergreifender Aspekt im Bereich der Paläographie aufgearbeitet werden: Das Schriftbild von Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts, die sicher aus – vor allem reformierten – süddeutschen Frauenklöstern stammten, offenbarte ein Set an ganz spezifischen Gemeinsamkeiten. Es erscheint auf den ersten Blick viel weniger geübt und professionell als die Schriften derselben Zeit, wie sie an den Universitäten oder Stadtkanzleien entstanden. Die Buchstabenformen der frauenklösterlichen Schriften entsprechen dabei häufig den typischen Ausformungen des 14. Jahrhunderts. Die Schriften orientieren sich weitestgehend an der Textualis bzw. Textura, nicht nur im Bereich der Buchstabenformen, sondern auch in der Art, wie die Buchstaben aneinandergesetzt sind: Sie sind häufig einzeln gedacht und geschrieben, auch in Schriftarten wie der Bastarda begegnen sie vereinzelt und kaum untereinander verbunden. Die Schrift der Frauenklöster dürfte dabei jedoch bewusst konservativ gewählt und an eigenen Vorbildern ausgerichtet gewesen sein.
Auch dürfte bei der Interpretation des Schriftbildbefunds eine Rolle spielen, dass die Schreibarbeit innerhalb der reformierten Klöster als Form der Andacht galt. Daher waren die Schreiberinnen nicht immer eigens für die Schreibtätigkeit ausgebildet. Die verfügbaren Vorlagen waren oft nicht immer aktuell oder sollten es nicht sein. Daraus resultieren Buchstabenformen, die im Vergleich zu den ausgebildeten und professionellen Schreibern – und natürlich auch Schreiberinnen – in den Stadtkanzleien oder auch klösterlichen Skriptorien konservativer erscheinen.
Wichtiges Umkehrmoment an dieser Erkenntnis ist nun, dass für Handschriften mit dem beschriebenen Schriftbild und einer Entstehungsgeschichte, die bisher weitestgehend im Dunkeln lag, ein frauenklösterlicher Entstehungs- und Gebrauchskontext in Erwägung gezogen werden kann.
Der dritte Projektabschnitt
2022 hat das dritte Projekt zur Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften an der BLB Karlsruhe begonnen. In diesem werden Bände mehrerer inhaltlicher Bereiche bearbeitet: Geschichte und Hilfswissenschaften (Segment C), Recht (Segment D), Naturwissenschaften und Medizin (Segment E), Mathematik, Astronomie, Kriegs- und Militärwesen (Segment F) sowie Kunst, Musik und Stammbücher (Segment G). Auf der Katalogisierungsliste werden daher unter anderem Reiseberichte, zahlreiche Chroniken, ‚Schwabenspiegel‘-Handschriften und andere Rechtsbücher, Arznei- und Hausbücher, ein deutscher Kalender sowie ein lateinisches Graduale stehen.
Einen ganz besonderen Schwerpunkt innerhalb des Projektkorpus bildet die umfangreiche Sammlung von ‚Schwabenspiegel‘-Handschriften, die allein elf Signaturen umfasst. Darunter befindet sich mit Cod. Donaueschingen 738 der älteste sicher datierte Textzeuge dieses Werks (dat. 1287). Wahrscheinlich wird er aber Gesellschaft erhalten: Cod. Donaueschingen 739 dürfte sich laut Schriftbefund als eine ähnlich alte, wenn nicht sogar noch ältere Handschrift erweisen.
Kunst- und regionalgeschichtlich bedeutend könnte die Handschrift Cod. Donaueschingen 883 sein. Bislang wurde sie von der Forschung in das 14. Jahrhundert datiert. Nach Ausweis der kunstvollen Eingangsinitiale in Deckfarben und Gold ist sie jedoch eindeutig in das mittlere 15. Jahrhundert umzudatieren. Die Initiale ist wohl dem Umkreis der Buchmalerei am nördlichen Oberrhein mit Bezügen zur bedeutenden Mainzer Buchmaler-Werkstatt des ‚Göttinger Musterbuchs‘ zuzuordnen. Eine ganz ähnliche Initiale nämlich findet sich in der Karlsruher Handschrift Cod. St. Peter perg. 109, die 1439 in Straßburg geschrieben wurde.
Das Donaueschinger Manuskript wurde bislang stets als ‚Graduale‘ angesprochen, tatsächlich aber handelt es sich um ein Totenoffizium, ein liturgisches Buch, dessen Texte und Gebete dem Gedächtnis der Verstorbenen dienen, das nach ersten Stichproben eine benediktinische Liturgie überliefert. Ob sich daraus eine Beziehung zum späteren Besitzer, der Reichsabtei Gengenbach, ergibt oder zu einer anderen Benediktinerabtei am Oberrhein, bleibt im Projekt zu klären.
Der Projektbestand umfasst insgesamt 73 Signaturen, von denen 38 Stücke mittelalterlich und 35 neuzeitlich sind. Im Vergleich zu anderen Projekten des Leipziger Handschriftenzentrums ist der Anteil an neuzeitlichen Handschriften sehr hoch; außerdem sind die neuzeitlichen Bände häufig historischen Inhalts mit starkem Regionalbezug, weswegen dieses Projekt zusammen mit dem Stuttgarter Handschriftenzentrum durchgeführt wird. Dort wird ein Großteil dieser neuzeitlichen Bände von einer einschlägig erfahrenen Katalogisiererin erschlossen. Damit gibt es dort nicht nur Expertise in der Katalogisierung neuzeitlicher Handschriften, sondern auch die erforderliche regionale Fachliteratur sowie enge Kooperationsmöglichkeiten mit dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Eine gemeinsame Arbeit zusammen mit dem Stuttgarter Handschriftenzentrum wurde bereits im Katalogisierungsprojekt zu den St. Georgener Handschriften erprobt und hat sich sehr bewährt.
Aufgrund der Unterschiede im zu katalogisierenden Material und im Umfang sind die Projektlaufzeiten an den beiden Häusern unterschiedlich lang: Während sie in Stuttgart elf Monate beträgt, wird sie sich in Leipzig auf 28 Monate belaufen.
Von den Projekthandschriften sind bisher nur wenige Einzelstücke von der Forschung beachtet worden. Durch die wissenschaftliche Erschließung und die parallel erfolgende digitale Bereitstellung soll eine fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen ermöglicht und gefördert werden.
Die entstandenen Katalogisate werden dabei sukzessive über das neue Handschriftenportal bereitgestellt. Hier werden auch die Digitalisate, die von der BLB Karlsruhe angefertigt werden, hinterlegt. Damit können nicht nur Beschreibung und Digitalisat einer Handschrift ganz bequem nebeneinandergelegt und gelesen werden, sondern auch weitere IIIF-fähige Digitalisate von Handschriften, die als Referenz für die Schrift, für den Buchschmuck oder auch für den Text herangezogen werden.
Am Ende des Projekts soll eine ausführliche Abschlusspublikation stehen. In dieser sollen die Beschreibungen der drei Projektphasen zusammengefasst, durch ausführliche Register aufbereitet und durch eine Einleitung ergänzt und kontextualisiert werden. Damit wären alle Handschriften der Provenienz Donaueschingen, die heute an der BLB Karlsruhe aufbewahrt werden, nach modernen Standards tiefenerschlossen und stünden somit in einem Katalog versammelt für die Forschung bereit. Mit den Beschreibungen sowie grundlegenden Ausführungen und Beigaben zur Sammlungsgeschichte – auch speziell zur Provenienz Laßberg – wird der Katalog hoffentlich zu einem entscheidenden Anlaufpunkt für die Arbeit an den Donaueschinger Handschriften avancieren.
Wir dürfen gespannt sein, welche Überraschungen und neuen Ergebnisse die Donaueschinger Handschriften des Segments C bis G für uns bereithalten. Wir freuen uns auf die Handschriften und auf die Zusammenarbeit mit den Stuttgarter und Karlsruher Kolleg*innen.