Zeugnisse spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Leipzig

Donaueschingen 424, fol. 22v

Projekt zur ‚Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (BLB)’ geht in die nächste Phase

Seit 2012 wird am Handschriftenzentrum der UB Leipzig ein Projekt zur wissenschaftlichen ‚Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe’ durchgeführt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat nun eine weitere Förderung des Vorhabens bewilligt: Am 1. März 2018 startet die zweite und abschließende Phase des Teilprojekts B, in dem die Handschriften mit theologischen Texten in Prosa bearbeitet werden.
In dem auf insgesamt 4,5 Jahre angelegten Projekt zum B-Segment werden 72 vorwiegend deutschsprachige Handschriften aus dem Spätmittelalter beschrieben. Mit diesen Handschriften bietet das Projekt eine Fülle an Material, das die Frömmigkeitskultur in den süddeutschen Frauenklöstern nicht nur illustriert, sondern auch direkt erfahrbar macht. Der Übergang zur zweiten Projektphase ist eine gute Gelegenheit, um erste Ergebnisse festzuhalten.

Bestands- und Projektgeschichte

Der Handschriftenfonds der ‚ehemals Donaueschinger’ Handschriften befand sich früher im Besitz der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen. 1993 wurde diese Hand­schrif­ten­samm­lung vom Land Baden-Württemberg angekauft, womit eine der bedeutendsten histo­ri­schen Adelsbibliotheken davor bewahrt wurde, auf dem Antiquariats­markt in alle Him­melsrichtungen verstreut zu werden. Nach dem Ankauf wurden die Bände auf die beiden Landesbibliotheken von Baden Württemberg, der WLB Stuttgart und der BLB Karlsruhe, aufgeteilt. Die Badische Landesbibliothek Karlsruhe erhielt die deutschsprachigen Stücke sowie einzelne Codices, die mit Karlsruher Provenienzen in Zusammenhang stehen. Bekannt sind die Donaueschinger Handschriften insbesondere wegen ihrer herausragenden Stücke wie dem Nibelungenlied C (Don. 63), der Liedersaal-Handschrift (Don. 104) oder der ‚Donaueschinger Liederhandschrift‘ (Don. 120).

Das Projekt zur ‚Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften der BLB Karlsruhe (Teil B)’ startete am 1. Januar 2015. In ihm werden die Handschriften des B-Segments bearbeitet, das heißt: 72 Handschriften geistlich-theolo­gischer Prosa. Darunter befinden sich Bibelübersetzungen, Erbauungsliteratur, Predigt­sammlungen, Legen­den, Ordensregeln sowie zahlreiche Andachtstexte. Mit 23 Signaturen bilden die Gebets- bzw. Andachtsbücher einen besonderen Schwerpunkt aus. Alle Stücke entstanden im Spätmittelalter, vom 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhundert, wobei die im 15. Jahrhundert entstandenen Bände bei weitem überwiegen. In den ersten drei Jahren wurden antragsgemäß 55 Handschriftensignaturen bearbeitet, d. h. nach den Richtlinien der DFG beschrieben bzw. „tiefenerschlossen“. Diese intensive Auseinandersetzung mit den Handschriften, bei der die Stücke als historische Objekte mit komplexem Informationsgehalt und jeweils ganz eigener Geschichte rekonstruiert werden, hat bereits zahlreiche bedeutende Ergebnisse zu Tage gefördert.

Erste Ergebnisse

Mit der Handschrift Don. 292 beispielsweise konnte ein weiterer Textzeuge der Predigten des berühmten Franziskaners Berthold von Regensburg (um 1210–1272) in Deutsch aus dem 14. Jahrhundert ermittelt werden. Nach Ausweis der Wasserzeichen- und Schriftanalyse dürfte der Band um 1380–1390 entstanden sein, womit die bisherige Datierung der Forschung in das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts deutlich zu korrigieren ist. Eine besondere Bedeutung auf inhaltlicher Ebene kommt z. B. dem Fragment Don. B II 8 zu. Es überliefert ein deutschsprachiges Evanglistar, also eine Zusammenstellung von Evangelien- und Epistellesungen, die nach dem Kirchenjahr geordnet ist. Die Schrift spricht sehr dafür, dass das Fragment wohl noch aus dem 4. Viertel des 13. Jahrhunderts oder aus der Zeit um 1300 stammt. Deutschsprachige Evangelistare waren zu dieser Zeit noch außer­ordent­lich selten.

Neben solchen Ergebnissen, die sich auf einzelne Handschriften selbst beziehen, haben sich nach den ersten drei Projektjahren bereits erste wichtige übergreifende Erkenntnisse ergeben. So konnte auf der Basis von Gebrauchsspuren und Besitzeinträgen, kodikologischen sowie inhaltlichen Anhaltspunkten für zahlreiche Bände nachgewiesen werden, dass sie aus süddeutschen Frauen­klöstern stammen und zu einem Großteil auch dort entstanden sind. So etwa im Frei­burger Klarissenkloster oder im dortigen Dominikanerinnen­klos­ter Adelhausen, im Straßburger Domini­ka­ne­rin­nen­­kloster St. Nikolaus, im Colmarer Dominikane­rin­nen­kloster Unterlinden, im Augus­ti­ner­­chor­frauen­stift Inzigkofen oder im Nürnberger Domini­ka­nerin­nenkloster St. Katharina. Hervor­zuheben ist in diesem Zusammenhang das um 1495–1496 entstandene Andachts- und Gebetbuch Don. 362, dessen Schreibhand auch in einer Handschrift der Colmarer Stadtbibliothek Ms. 403 ermittelt werden konnte. Eine Identifikation desselben Schreibers bzw. – wie im Falle von Don. 362 – wohl derselben Schreiberin in unterschiedlichen und heute an verschiedenen Orten aufbewahrten Handschriften gelingt äußerst selten. Da der Colmarer Band aller Wahrscheinlichkeit nach im Dominikanerinnenkloster Unterlinden geschrieben wurde, dürfte auch Don. 362 dort entstanden sein.

Mit den zahlreichen aus Frauenklöstern stammenden Handschriften kann das Projekt eine wichtige Materialbasis für die Erforschung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur liefern. Sie sind nämlich nicht nur Zeugnisse der tiefen und praktizierten Religiosität – vor allem infolge der spätmittelalterlichen Observanz­bewe­gung (= Klosterreform) – sondern zeigen auch die Verbindungen und den Austausch zwischen den verschiedenen Klöstern. Ebenfalls wurde an den Donaueschinger Bänden deutlich, dass die Nonnen zu einem Gutteil die Handschriften selbst als direkte Frömmigkeits- und Andachtsübung angefertigt haben und dabei zur Ausbildung eines eigenen Handschriftentyps mit einem speziellen Layout und mit einer ganz eigenen Form des Schreibens beigetragen haben.

Ergebnispräsentation und Ausblick

Um die erzielten Ergebnisse möglichst schnell der Forschung zur Verfügung zu stellen und eine Diskussion mit und in der Forschung anzustoßen, werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bearbeitung, d. h. die entstandenen Handschriften­be­schrei­bun­gen, projektbegleitend über die Handschriften­da­ten­bank Manuscripta Mediaevalia online bereitgestellt. Parallel stellt die BLB Karlsruhe die Volldigitalisate der Handschriften über ihr Präsentationssystem zur Verfügung, die dann mit den Beschreibungsdaten in ManuMed verlinkt werden.

In der zweiten Projektphase sollen die verbleibenden Handschriften des Projektbestands bearbeitet, die Ergebnisse weiter systematisiert und gebündelt sowie die Drucklegung eines Katalogs (zusammen mit den Ergebnisse des Projekts zum A-Segment) vorbereitet werden.
Für diese letzten 16 Projekt-Monate benötigt das Team des Leipziger Handschriftenzentrums bei der wissenschaftlichen Bearbeitung übrigens noch personelle Verstärkung. Noch bis 12. Februar 2018 ist eine Bewerbung möglich.

Katrin Sturm

Katrin Sturm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum an der Universitätsbibliothek Leipzig.

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