Die Bibliothek der vielen Schriften
Die Bibliothek Orientwissenschaften (seit 2020: Regionalwissenschaften) ist in einem ehemaligen Bankgebäude in der Schillerstraße untergebracht. Wir beginnen unseren Rundgang im Keller der Bibliothek, wo sich golden gebundene Gesamtausgaben und alte tibetische Gebetsbücher dicht gedrängt im ehemaligen Tresorraum aufreihen. Das imposante Treppenhaus und die filigran verzierte Wendeltreppe erinnern an den einstigen Glanz der Jahrhundertwende.
An diesem trüben Herbstmorgen führt uns Ulrich Endruschat, Leiter des Standortes und selbstbezeichneter „Mann der ersten Stunde“ durch die Bibliothek der Orientwissenschaften. Am 4. Oktober 1993 – und dies sei aktenkundig belegt – stand er zum ersten Mal in diesem Gebäude in der Schillerstraße, das sich damals in einem schlimmen baulichen Zustand befand.
Auf Ulrich Endruschat und seine in den 90er Jahren einzige Mitarbeiterin Gabriele Schlesinger wartete vor allem Pionierarbeit. Die Bücher des Ostasiatischen Instituts und der Religionswissenschaft standen größtenteils dezentral in den Instituten, die gerade aufgebaut wurden. Erst im Oktober 2006 kam es nach einer fast zweijährigen Bauphase zur Eröffnung dieses neuen Bibliotheksstandortes, welcher die Bestände schließlich auch physisch zusammen führte. Und so reihen sich nun hier in der Schillerstraße dicht gedrängt Bücher in den verschiedensten Sprachen und Schriften auf, was man so nicht allzu häufig in Deutschland finden dürfte. Heute beheimatet die Bibliothek Orientwissenschaften Bestände für die Indologie, die Zentralasienwissenschaften, die Sinologie, die Japanologie, die Ethnologie, die Religionswissenschaft und die Arabistik. Im Kroch-Hochhaus befinden sich die Bibliotheken der Altorientalistik und der Ägyptologie.
Die Jahre zuvor hatten Professorinnen und Professoren ihre Literatur in den eigenen Büros bewahrt. Die Sorge, die Akzeptanz der neu eingerichteten Bibliothek fiele gering aus, war schlussendlich unbegründet. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen die Zugänglichkeit und unmittelbare Nähe der reinen Präsenz-Bibliothek im Erdgeschoss des Hauses.
Herausforderungen der Vielsprachigkeit
Wir finden uns in kleiner Runde an den großen Fensterfronten wieder, direkt vor dem Regal des „Taiwan Resource Center“. Ulrich Endruschat hatte uns während des Rundgangs einem Test unterzogen. Dies hier sei Japanisch meint er und hält uns ein Buch hin. Wir sind erleichtert, dass wir Laien es dann doch als eine der zahlreichen indischen Schriften erkennen. Doch welche der vielen Möglichkeiten? Sanskrit, Urdu, Hindi?
„Wie geht man mit solchen Büchern um?“, ist in den Orientwissenschaften die konsequente Fragestellung. Die Antwort und gleichzeitige Lösung wird in Ulrich Endruschats Worten nicht als Makel angesehen, sondern beruht in der Herausforderung, Fachleute von Beginn an intensiv einzubeziehen. Das Team ist seit 2002 stetig angewachsen – neben Gabriele Schlesinger für die Sinologie, ist Katharina Malkawi neben ihren Fachreferaten Ethnologie und Religionswissenschaft für die Erschließung in der Indologie und Zentralasienwissenschaften da, Masako Fujita-Dahlberg für die Japanologie, Ulrike Heinze für die Arabistik und Valerie Tschiersich in der Benutzung und Freihand tätig. Hinzu kommt eine Vielzahl studentischer Hilfskräfte, deren sprachliche Kenntnisse unersetzlich sind, wie auch die sehr enge Zusammenarbeit mit den Instituten. Die Erwerbung und Erschließung der Bestände in den unterschiedlichsten Sprachen oder Projekte, wie die Zusammenführung des Gesamtbestandes unter der Regensburger Verbundklassifikation (RVK), sind einzig mit dem fachspezifischen Wissen der hier anwesenden Expertinnen möglich.
Expertinnen, die mitunter interessante Wege wählen müssen, um ihre Erwerbungen zu tätigen. Spezialhändler sind teuer und nicht immer für ihre raschen Lieferzeiten bekannt. Ein bis zwei Jahre waren in der Arabistik bis vor kurzem nicht unüblich. In der Indologie ist man schließlich über Professoren an einen Bekannten gelangt, der einen kleinen Buchladen vor Ort besitzt. Dieser kann, so Katharina Malkawi, „schlichtweg alles besorgen, was man braucht“.
Diese Arbeit zwischen Erwerbung, Schulungen und dem alltäglichen Kontakt mit Bibliotheksbenutzerinnen und -nutzern ist abwechslungsreich, wobei einen nicht unerheblichen Anteil die Retrokatalogisierung einnimmt:
Bis 2009 konnten die Bestände der Japanologie, Sinologie, Indologie und Arabistik nur in lokalen Katalogen dargestellt werden; viel hat sich seitdem dank der Angehörigkeit im Südwestdeutschen Bibliotheksverbund (SWB) und der Entwicklung des finc-Katalogs an der Universitätsbibliothek Leipzig getan. Durch die aufwändige Umstellung auf den Zeichencode Unicode UTF-8 konnte seit 2009 mit der Katalogisierung der Originalschriften begonnen werden. Außerdem ist der Katalog mit den Umschriften, also beispielsweise Pinyin im Chinesischen und Romaji im Japanischen, durchsuchbar. Diese Aufgabe ist langwierig und stellt die Kolleginnen und Kollegen vor zahlreiche Probleme. Die Vorteile und Schwierigkeiten dieses Umstiegs hat der Leiter der Medienbearbeitung an der UB Leipzig, Jens Lazarus, in einem Fachartikel dargelegt.
Service wird hier gelebt
Eine solch vielsprachige Bibliothek ist nicht ausschließlich nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der hier ansässigen Institute attraktiv. Der Belletristik-Bestand erfreut sich unter anderem bei der größten nicht-deutschsprachigen Studentengruppe – Chinesinnen und Chinesen – an großer Beliebtheit, was ausdrücklich erwünscht ist.
Immer werde versucht für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer der verschiedenen Fächer eine Lösung zu finden, versichern uns die Kolleginnen und Kollegen, Service werde hier gelebt. Das „Schick‘ mal rüber!“ gewährleiste beispielsweise der sogenannte „blaue Leihverkehr“ für ost- und südasienwissenschaftliche Literatur der deutschen und europäischen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen.
Kulturell wichtige Arbeit konnte die Bibliothek Orientwissenschaften vor gut zwanzig Jahren leisten: mongolische Muttersprachler, die in Deutschland studierten und ihre eigene Schrift erst noch erlernen mussten, versorgte der Standort mit Literatur in ihrer Sprache nachdem diese ab 1994 in der Mongolei wieder neben der kyrillischen verwendet werden durfte.
Die edlen Holzvertäfelungen, der feine Jugendstil und die mit Stoff verkleideten Wände vermitteln Ruhe und eine Atmosphäre des Alten und Altbewährten. Doch darf man sich nicht täuschen: Die Bibliothek und ein hier ansässiges Fach, die Japanologie, waren erst in diesem Jahr prominentes Thema im deutschsprachigen Feuilleton. Nicht zuletzt das ZEIT Magazin berichtete von den über 5.000 japanischen Videospielen – eine europaweit bislang einzigartige Sammlung und ein Novum im Bestand wissenschaftlicher Bibliotheken –, die hier her zur wissenschaftlichen Erschließung wanderten, um schließlich der Forschung zu dienen. Eine wissenschaftliche Erschließung, da sind wir uns gewiss, die in der Schillerstraße in den besten Händen ist.
Text und Fotos: Caroline Bergter