oder: ein Jahr Bibliotheksvolontariat
Zu den Dingen, die mir meine Vorgängerin im Volontariat, Jeannine Kunert, besonders nachdrücklich eingeschärft hat, gehörte folgende einfache Formel: Albertina ≠ UBL.
Natürlich ist die Bibliotheca Albertina mit ihrer prachtvollen Fassade und ihrer wechselhaften Geschichte ein Stück weit das ‚Gesicht‘ der Universitätsbibliothek, aber sie ist eben nur ein Teil eines größeren Ganzen.
Im Laufe des ersten Jahres meines Volontariats hatte ich die Gelegenheit, auch die anderen Teile der Bibliothek kennenzulernen – wenn auch bei weitem nicht so intensiv und ausführlich wie die Albertina. Da ich erst im Herbst 2022 nach Leipzig gezogen bin, war die Reise durch die verschiedenen Standorte zugleich eine Erkundungstour durch eine mir immer noch vielerorts unbekannte Stadt. Mit anderen Worten: ein Abenteuer.
Jedes gute Abenteuer beginnt aber mit einem Aufbruch von der vertrauten Umgebung, ob nun von Beutelsend, dem Artushof oder in meinem Fall eben der Albertina. Hier habe ich im Handschriftenzentrum im vierten Obergeschoss meinen hauptsächlichen Arbeitsbereich, hier habe ich auch die ersten Stationen in den Bereichen Service/Benutzung und Bestandsentwicklung/Metadaten durchlaufen – und mich gelegentlich auch verlaufen, aber das gehört vielleicht dazu. Gelegentliche Ausflüge haben mich nach Hannover auf die BiblioCON geführt und natürlich bin ich weiterhin regelmäßig zum Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaften nach Berlin gefahren, aber die meiste Zeit habe ich doch in der Albertina verbracht. Das sollte sich im Frühjahr 2023 ändern.
Campus-Bibliothek
Glücklicherweise war ich bei meinen ersten Abenteuerfahrten nicht allein. Es war der effizienten Planung von Frau Manns-Süßbrich – die nicht nur für die Koordination meiner Ausbildung, sondern auch für Praktika an der UBL verantwortlich ist – zu verdanken, dass ich die Standortbesichtigungen gemeinsam mit zwei Praktikantinnen starten konnte. Unsere erste Station war die Campus-Bibliothek.
Unter der Führung von Frau Malkawi haben wir die Bibliothek von oben bis unten durchwandert, vorbei an den vielen unterschiedlichen Arbeitsplätzen und Gruppenarbeitsräumen, von den luftigen Höhen der Mitarbeitendenbüros bis hinunter in die – dank Lichtschacht gar nicht mal so finsteren – Tiefen des Bereichs der Wirtschaftswissenschaften.
Es war für mich dabei spannend zu merken, wie sich mein Blick auf Bibliotheken in dem guten halben Jahr Volontariat bereits geändert hatte. Vor allem dank der Seminare im Studium, die sich mit Bibliotheksbau beschäftigt haben, sind mir Dinge aufgefallen, an denen ich vorher vermutlich einfach vorbeigelaufen wäre: Beschilderungen, Regalabstände oder Arbeitsplatzsteckdosen. Das Wissen aus den Seminaren direkt anwenden zu können, ist einer der großen Vorteile dabei, das Studium parallel zur praktischen Ausbildung zu absolvieren – anders als etwa beim Studium an der Bibliotheksakademie Bayern. Dort verbringen die Referendar*innen zunächst ein Jahr in den Bibliotheken und absolvieren erst im zweiten Jahr ihre theoretische Ausbildung.
Bibliothek Regionalwissenschaften
Nach der großen Campus-Bibliothek ging es weiter zu einigen deutlich kleineren Standorten, zunächst zu einem, auf den ich besonders gespannt war: die Bibliothek Regionalwissenschaften.
Ich habe in meiner Zeit an der Uni viel zu mittelalterlichen Reiseberichten und Weltbeschreibungen geforscht und gelehrt, vor allem zu solchen, die von Asien handeln. Natürlich ist der Blick dieser Texte ein westlicher, der zudem häufig nur auf Bücherwissen basiert, unberührt von eigenen Reiseerfahrungen der Verfasser – und als Germanist war auch ich immer auf die Expertise von anderen Forschenden angewiesen, die sich mit den beschriebenen Regionen auch tatsächlich auskennen. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung dabei nicht von politischen Auseinandersetzungen zu trennen ist, spiegelt sich in der Umbenennung der Bibliothek, die bis 2020 noch „Orientwissenschaften“ hieß.
Der Besuch in der Bibliothek Regionalwissenschaften war aber auch deshalb besonders interessant, weil sich im Keller noch eine weitere Bibliothek befindet: die Dokumentationsstelle „Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus in Deutschland” des Religionswissenschaftlichen Instituts. Praktischerweise hat eine der beiden Praktikantinnen, die mit mir auf dieser Abenteuerreise waren, als Studentische Hilfskraft in der Dokumentationsstelle gearbeitet, so dass wir auch hier eine fachkundige Führung bekommen haben. Inzwischen ist besagte Praktikantin – Sophie Krohn – übrigens Mitarbeiterin der UBL, und zwar in der der Bibliothek Regionalwissenschaften.
Bibliothek Musik
Die nächsten beiden Stationen waren dann die Bibliotheken Kunst und Musik. Ich hatte das Leipziger Zentrum bis dahin hauptsächlich unter touristischen Gesichtspunkten wahrgenommen – und wegen des Einkaufstrubels weitgehend gemieden. Umso interessanter war es, die beiden kleinen Spezialbibliotheken mit ihrer engen Anbindung an die zugehörigen Institute und den fachspezifischen Eigenheiten zu besuchen – wie oft sieht man schon ein Klavier in einer Bibliothek?
Solche Arten von Spezialbestand waren ebenfalls bereits Thema in meinem Studium, in einem Modul, das bezeichnenderweise den Umgang mit so unterschiedlichen Medien wie „Noten, Karten und AV-Material in Bibliotheken“ – so der etwas trockene Titel – zusammengefasst hat. Unnötig zu erwähnen, dass mich die Karten besonders interessiert haben, nicht nur wegen meiner früheren Forschungsschwerpunkte, sondern auch, weil jede gute Abenteuerreise eine Karte braucht.
Bibliothek Erziehungs- und Sportwissenschaft
Ganz anders als die beiden kleinen Standorte war dann der Eindruck aus der Bibliothek Erziehungs- und Sportwissenschaft. Der Neubau auf dem Campus Jahnallee ist für eine viel größere Zahl an Nutzer*innen ausgelegt, zudem ist das Spektrum der Themen viel breiter. Frau Hacker hat mich durch die Bibliothek geführt und es war spannend zu hören, wie auf die Bedarfe und (Arbeits-)Vorlieben der Studierenden aus den verschiedenen Fächern eingegangen wird – beispielsweise durch einen großen Präsenzbestand oder durch die unterschiedlichen Arten von Arbeitsplätzen.
Ein besonderes Highlight ist natürlich die Dachterrasse mit den Liegestühlen, auch wenn es bei meinem Besuch Ende Juni schon fast zu warm war, um länger dort zu verweilen – was für die Produktivität sicherlich auch von Vorteil sein kann.
Bibliothek des Deutschen Literaturinstituts
Fehlende Produktivität wäre für mich vermutlich auch ein Problem, wenn ich zum Lernen in die Bibliothek des Deutschen Literaturinstituts gehen würde. Allein die Vitrine im Vorraum mit den kunstvoll arrangierten Büchern lädt zum Verweilen ein und macht deutlich, wie eng Literaturrezeption und -produktion hier miteinander verknüpft sind. Die ganze Bibliothek ließ mein Germanistenherz höherschlagen und weckte zugleich die Lust, mich mit einem guten Roman – oder doch lieber einem Gedichtband? – in einem Sessel niederzulassen.
Bibliothek Medizin/Naturwissenschaften
Und tatsächlich gibt es in den Standorten der UB genügend Möglichkeiten, es sich bequem zu machen! Ich hatte nur leider kein Buch dabei, als ich mich einige Tage später auf den Weg zur Bibliothek Medizin/Naturwissenschaften gemacht habe, und als Geisteswissenschaftler hätte ich wahrscheinlich nicht viel mit den Beständen dort anfangen können, geschweige denn mit den Molekülbaukästen (!) und anatomischen Modellen (!!), die man sich hier ebenfalls leihen kann. Zum Zeitpunkt meines Besuchs liefen gerade die Arbeiten für die neuen Arbeitsbereiche im Erdgeschoss – eine gute Erinnerung daran, dass eine Bibliothek nie ‚fertig‘ ist, nicht mal eine, die erst vor wenigen Jahren eröffnet wurde.
Bibliothek Veterinärmedizin
Jede gute Abenteuerreise hat diesen Moment, wenn die Protagonistin oder der Protagonist am weitesten von der vertrauten Umgebung entfernt ist, den höchsten Berg erklimmt, die tiefste Höhle erkundet: Auf meiner Reise war dieser Moment mein Besuch in der Bibliothek Veterinärmedizin. Jede der Bibliotheken hat ihre Besonderheiten, aber was mir hier sofort ins Auge sprang, war der Einfluss der Studierenden. Das reicht von den zahlreichen Aushängen und Ankündigungen bis hin zu den Logos der Matrikel, die überall prangen – einschließlich Matrikeltier. Auch dass die Bibliothek in die Bergfeste zur Hälfte der Studienzeit einbezogen wird, zeigt die bemerkenswert enge Verbindung, die hier zwischen der Bibliothek und ihren Nutzer*innen besteht. Natürlich hat sich mir sofort die Frage gestellt, was wohl ein gutes Matrikeltier für einen Germanistikstudiengang wäre. Ein schwarzer Pudel vielleicht?
Dessen mephistophelische Gaben hätten dann eventuell auch dafür gesorgt, dass ich den Weg in die nächste Bibliothek gefunden hätte, ohne mich zu verfahren… so aber kam ich leider mit einiger Verspätung in der Ritterstraße an. Dort warteten genau genommen nicht eine, sondern gleich zwei Bibliotheken, auch wenn diese formal unter dem gemeinsamen Titel Bibliothek Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte firmieren. Auch hier ist die enge Anbindung an die jeweiligen Institute spürbar, genauso wie die familiäre Atmosphäre, die so typisch ist für kleine Fächer.
Bibliotheken Rechtswissenschaft I und II
Den Abschluss meiner Abenteuerreise bildete dann wiederum ein Doppelstandort, nämlich die Bibliotheken Rechtwissenschaft I und II. Hier wurde noch einmal besonders deutlich, wie herausfordernd es sein kann, die unterschiedlichen und manchmal gegensätzlichen Bedarfe der Nutzer*innen zu erfüllen: auf der einen Seite der Wunsch nach totaler Ruhe, gerade während der Prüfungsvorbereitungen – und im Jurastudium stehen eigentlich immer für irgendeine Matrikel Prüfungen an –, auf der anderen Seite der Wunsch nach Austausch und Diskussion. Dass die Gruppenarbeitsräume, die dafür zur Verfügung stehen, hier Parlatorien heißen, mag einem etwas prätentiös vorkommen, aber mir gefallen solche kleinen Schrulligkeiten, die den Bibliotheken ihren eigenen Charakter verleihen.
Denn im Rückblick, beim Verfassen dieses Beitrags nach meiner ‚Heimkehr‘ an die Albertina, wird mir bewusst, wie groß einerseits die Gemeinsamkeiten sind: Es gibt übergreifende Ausleihregelungen, ein gemeinsames Leitsystem und natürlich überall eine beeindruckende Vielfalt an Arbeitsplätzen. Andererseits haben doch alle Bibliotheken ihre Eigenheiten, überall haben die Fächer mit ihren unterschiedlichen Traditionen und Bedarfen, haben die Nutzer*innen ‚ihren‘ (oder doch gleich ohne Anführungszeichen: ihren) Bibliotheken ihren Stempel aufgedrückt. Das gilt in besonderem Maße auch für die Mitarbeiter*innen, die sich so unermüdlich und fürsorglich um ihre Standorte kümmern – und die mich geduldig und hilfsbereit durch die Bibliotheken geführt haben, wofür ich mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken möchte.
Das also war meine Reise durch die 13½ Standorte der UBL. Eine abenteuerliche Reise quer durch (einige Teile von) Leipzig, durch große und kleine Häuser, vielleicht nicht gefährlich im engeren Sinne, aber doch sehr spannend und abwechslungsreich. Nun mögen aufmerksame Leser*innen einwenden, dass die UBL nur elf Standorte habe. Aber erstens tauchen in diesem Bericht mehr als nur elf Bibliotheken auf, zweitens braucht jeder gute Reisebericht die eine oder andere Ausschmückung und drittens kommt kein Text ohne literarische Vorbilder aus …