Die Buchmesse in der DDR

Leipziger Buchmesse 1989, Foto: Gerhard Hopf/Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

Ein Fundstück zum Themenjahr „Buchstadt Leipzig“

Die Schwarz-Weiß-Aufnahme nimmt uns mit in eine andere Zeit. Es ist März 1989. Zwar regt sich in Leipzig und anderswo an vielen kleinen Punkten schon Widerstand gegen den Staat und die Einengung, aber im Großen und Ganzen geht alles seinen sozialistischen Gang. Wie jedes Jahr findet die Internationale Leipziger Buchmesse innerhalb der großem Leipziger Frühjahrsmesse statt. Bücher sind also nicht die einzigen Waren, die auf der Handelsschau gezeigt werden. Maschinen, Werkzeuge und andere technische Güter finden sich in den Hallen auf dem weitläufigen Gelände der Technischen Messe nahe des Völkerschlachtdenkmals. In den Messehäusern der Innenstadt gibt es Porzellan zu sehen, Möbel, Musikinstrumente, Nahrungsmittel, Schmuck und Uhren, Schuhe und Spielwaren.

Aber die Menschen auf dem Foto interessieren sich für Literatur. Sie drängen sich hinter einer Reihe von Tischen voller Bücher und Prospekte. Im Bildmittelpunkt sehen zwei Männer gemeinsam in ein aufgeschlagenes Buch. Einer von ihnen freut sich, ist glücklich oder positiv überrascht. Hinter und neben den beiden recken andere die Köpfe. Ihr Blick geht in Richtung der Auslage auf den Tischen und in Richtung der Bücher, die in den Regalen an diesem Stand stehen.

Messehaus am Markt 1963, Foto: Gerhard Döring/Deutsche Fotothek

Diese Besucher*innen befinden sich im Messehaus am Markt, dem Gebäude, das 1963 eigens für die Buchmesse gebaut worden war. Das einstmals modernste Messehaus beeindruckte mit Leuchtstoffröhren und einheitlichen Elementen, um die Ausstellungskojen zu bauen. Gut 25 Jahre später ist das Gebäude etwas in die Jahre gekommen, das Mobiliar abgenutzt. Die vier von der Buchmesse genutzten Etagen bieten viel zu wenig Platz für all die Verlage, die sich in Leipzig präsentieren wollen, vor allem die aus der Bundesrepublik.

Auch bietet das Messehaus am Markt viel zu wenig Platz für all die Literaturbegeisterten, die in Scharen auf die Buchmesse strömen. Manche haben sich extra Urlaub genommen, kommen aus weit entfernten Ecken der DDR. Sie stehen nun dicht gedrängt, vertieft und konzentriert, angezogen von Büchern, manche ernst, andere gelöster. Eine gewisse Spannung hat das Foto eingefangen.

In jedem Fall sind einige neugierig, auf der Suche. Sie suchen nach Inhalten, die sonst in der DDR unerreichbar sind. Denn nur staatlich kontrollierte Titel kommen auf den Markt, die begehrten in oftmals viel zu kleinen Auflagen. Diese Menschen im Messehaus am Markt suchen im Grunde nicht nur nach Büchern, sondern nach etwas Größerem: nach Freiheit.

Gelegenheit dazu bietet beispielsweise der renommierte Verlag S. Fischer aus Frankfurt am Main. Dass unser Foto dort aufgenommen wurde, erkennt man an den Prospekten, die auf dem Tisch vor den Besucher*innen ausliegen und die „Fischer Taschenbücher“ verzeichnen. Die Prospekte sind mit Bindfäden an den Tischen befestigt – ein Zeichen für die Begehrtheit der Ware. Ganz ungesichert liegen dagegen Flyer zu den Werken Golo Manns aus.

S. Fischer ist auf der DDR-Buchmesse für das Publikum eine der Attraktionen. Wie das Foto zeigt, erregt das Verlagsangebot die Neugier von jüngeren Menschen etwa im Alter Studierender und genauso von älteren Personen. Der Verlag stellte seit 1972 in Leipzig aus und war nach einer Pause in der ersten Hälfte der 1980er Jahre wieder Publikumsmagnet.

Dieser Andrang ist es auch, der den Verlag dazu veranlasst, die Tische als Absperrung zum eigentlichen Verlagsstand aufzustellen. Zusätzlich bildet ein starkes Seil eine Barriere. Doch diese Kordel ist nur ein vermeintliches Hindernis. Sie gräbt sich leicht in den Oberarm des Lesers, der übergebeugt in einem dicken Wälzer blättert.

Das Programm des Verlags zieht die Leser*innen magisch an, denn dort findet sich einiges, das in der DDR keinesfalls oder nur unter großen Mühen, mit viel Verzögerung und dann in geringen Mengen verlegt wurde: bedeutende Autor*innen der klassischen Moderne wie Franz Kafka, die Werke Leo Trotzkis und Sigmund Freuds, Schriften von Max Horkheimer, zeitgenössische Literatur aus der Bundesrepublik, US-amerikanische Romane und Werke von verfemten Autor*innen aus der DDR wie Reiner Kunze.

Auszug aus der Liste mit den nicht zur Ausstellung zugelassenen Titeln bundesdeutscher Verlage zur Buchmesse 1979. Quelle: BArch, MfS, HA XX, 11867, Bl. 282

Daher zählt S. Fischer für die Organisatoren der Buchmesse zu den besonders problematischen Verlagen. Aus Sicht der DDR mussten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, um die Bürger*innen vor den unliebsamen Inhalten aus den Westverlagen zu schützen. Deswegen kontrollierten verschiedene Instanzen in einem aufwendigen Verfahren das gesamte Ausstellungsgut und zensierten vermeintlich antikommunistische Titel, unerwünschten Geschichtsdarstellungen oder als „Hetze“ gegen die DDR oder die Sowjetunion aufgefasste Werke. Bei S. Fischer betraf das 1979 16 Titel, darunter beispielsweise der Band zum Imperialismus in der „Fischer Weltgeschichte“ von Wolfgang J. Mommsen.

Gert Neumann um 1979, Foto: S. Fischer

Und noch einen weiteren brisanten Band wollte der Verlag 1979 zeigen: das druckfrische Debüt des Leipziger Autors Gert Neumann „Die Schuld der Worte“. Der Verlag hatte sogar versucht, das Werk in fünf Exemplaren auszustellen. Sie wurden allesamt einbehalten. Davon ahnte die Traube von Interessierten am Stand allerdings nichts.

Die Ausgabe von Gert Neumanns „Schuld der Worte“ in der Collection S. Fischer im Bestand der UB Leipzig

Gert Neumann ist einer der DDR-Autor*innen, deren Werke nicht in der DDR erscheinen durften und der von der Staatssicherheit drangsaliert wurde. Geburtshelfer für Neumanns literarisches Debüt war der Lektor und Herausgeber der Reihe „Collection S. Fischer“ Thomas Beckermann. Er hatte zum Autor während seiner Messeaufenthalte in Leipzig Kontakt aufgenommen und das Manuskript unbeobachtet in den Westen befördert. „Die Schuld der Worte“ publizierte Neumann aus DDR-Sicht illegal in Frankfurt am Main. Es war klar, dass die „Nachfrage“ nach solch einem Titel beim Messepublikum hoch sein würde, aber es war genauso klar, dass die Messeorganisatoren dies als Provokation auffassen würden.

Die „Blechbüchse“, fotografiert von Roger Melis, auf dem Cover von „Elf Uhr“, 1981 in Frankfurt am Main erschienen, Foto: buchfreund.de

Zehn Jahre später allerdings findet sich jedoch sehr wohl ein Titel von Neumann in den Regalen auf der Buchmesse. Am rechten Bildrand unseres Fundstücks sind einige Bücher zu sehen, darunter „Elf Uhr“, 1981 bei S. Fischer herausgekommen. Inzwischen hatte sich also die Messezensur gelockert. Auf dem Cover trägt das Buch übrigens die Leipziger Blechbüchse, damals das Warenhaus „konsument“. Dort arbeitete der Autor als Handwerker und notierte täglich 11 Uhr seine Eindrücke aus dem sozialistischen Alltag.

Bei diesem einzigartigen offenen literarischen Angebot ist es also kein Wunder, dass sich auf dem Foto mehrere Personen über Bücher beugen und darin blättern oder lesen. Eine Person macht sich sogar Notizen. Diese Wege, sich die Inhalte anzueignen, komplettieren die Variante, die Bücher heimlich massenhaft aus dem Messehaus am Markt in den DDR-Lesekosmos zu befördern. Dies erleichterte der Umstand, dass eine Garderobe im Haus fehlt. Außerhalb des Gebäudes ist es März. Dementsprechend tragen die Menschen Jacken, Schals und sogar Hüte, haben Beutel und Taschen dabei, in denen schnell das eine oder andere Buch verschwinden konnte.

Besonders häufig stammte das Diebesgut nicht nur von S. Fischer, sondern auch von den Verlagen Suhrkamp, Rowohlt und Hanser:

Quelle: MfS-Bericht, 13.3.1975, BArch, MfS, HA XX, 6872, Bl. 42.

Dieser Auszug stammt aus einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie schätzte die Buchmesse wegen des unkontrollierbaren Zustroms von verbotenen Inhalten als höchst subversiv ein und überwachte die Vorgänge dort weitgreifend. Doch sowohl das Publikum als auch die Menschen aus den Verlagen und die Autor*innen fanden stets Mittel und Wege, den deutsch-deutschen Literaturaustausch aufrecht zu erhalten.

Warum dieses Fundstück

Vieles habe ich über die Leipziger Buchmesse in der DDR gelesen, nicht enden wollende Stapel von Dokumenten in diversen Archiven gesichtet, habe mit Zeitzeug*innen gesprochen, die auf die eine oder andere Weise mit der Buchmesse in Leipzig zu tun hatten. Das Bild wurde immer plastischer, mein Untersuchungsgegenstand nahm von Information zu Information mehr Gestalt an. Ich kenne die unzähligen Stasiberichte über das Gedränge an den Ständen der westdeutschen Verlage, die Erzählungen der Verleger aus der Bundesrepublik über das außerordentlich gut informierte Lesepublikum in der DDR, das sich an ihren Ständen tummelte. Wirklich anschaulich aber wird das Geschehen auf der Buchmesse durch Fotografien. In besonderer Weise gelang es Gerhard Hopf, die Atmosphäre in seinen Bildern einzufangen. Eines davon habe ich hier vorgestellt.

Etwas zu kurz kam die Rolle, die der Börsenverein des deutschen Buchhandels für die Entwicklung der Buchmesse spielte. Schließlich ist der Anlass für das aktuelle Leipziger Buchstadt-Themenjahr, dass der Börsenverein vor 200 Jahren in dieser Stadt gegründet wurde.

Dieser kleine Beitrag entstand auch mit Blick auf die Leipziger Buchmesse der Gegenwart, die in wenigen Tagen wieder und noch immer ihre Pforten öffnen wird. Die Veranstaltung befindet sich immerhin auf dem Weg zu ihrem 80. Geburtstag, der 2026 ins Haus steht – wenngleich sich die ältere Dame vielmehr auf 1991 berufen wird, als sie sich – stark kränkelnd – nach der Wiedervereinigung einer kompletten Verjüngungskur unterzog.

Wollen Sie mehr über die Wurzeln der Leipziger Buchmesse erfahren? Im Rahmen des Programms der Universitätsbibliothek Leipzig zum Themenjahr „Buchstadt Leipzig: Mehr als eine Geschichte“ stellt Patricia F. Blume die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR am 13. März 2025, um 19 Uhr im Café Alibi in der Bibliotheca Albertina vor. Der Eintritt ist frei.

Patricia F. Blume

Patricia F. Blume koordiniert den Fachinformationsdienst adlr.link für die Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie das rufus-Portal zur Rundfunksuche und ist Fachreferentin für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universitätsbibliothek Leipzig

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