Wenn Bücher reden könnten… (Folge 4)

Anlässlich des Tages der Provenienzforschung am 14. April 2021 soll hier erneut von einem Buch erzählt werden, das seinem Eigentümer in der Zeit des Nationalsozialismus unrechtmäßig entzogen wurde. Es handelt sich um das Werk: Spiero, Heinrich: Raabe-Lexikon. Berlin-Grunewald: Klemm, [1927], Signatur: 01A-2015-7933.

Im Buchdeckel ist ein schönes Exlibris zu finden, das auf den Eigentümer des Buches hinweist:

Es wurde von Karl Alexander Wilke (geboren 16. Juli 1879 in Leipzig–gestorben 27. Februar 1954 in Wien), einem deutsch-österreichischen Maler, Illustrator und Bühnenbildner geschaffen. Rechts unten über dem Namen Kisch findet man ziemlich versteckt seinen Namenszug „Wilke“.

Wer war Paul Kisch?

Paul Kisch entstammt einer alten jüdischen Familie aus Prag und wurde am 19. November 1883 in Prag als ältester Sohn des jüdischen Tuchhändlers Hermann Kisch und seiner Frau Ernestine geboren. Er hatte vier Brüder. Darunter den am 25. April 1885 geborenen österreichischen und später tschechoslowakischen Schriftsteller, Journalisten und Reporter Egon Erwin Kisch, der als einer der bedeutenden Vertreter in der Geschichte des Journalismus gilt, er wurde auch als „rasender Reporter“ in den 20er Jahren berühmt.

Paul Kisch besuchte von 1893 bis 1901 das Altstädter Gymnasium im Palais Goltz-Kinsky. Mitschüler waren Hugo Bergmann, Rudolf Illový, Franz Kafka und Emil Utitz. Mit Franz Kafka wechselten Paul und Egon Erwin Kisch später Briefe, die in den vergangenen Jahren herausgegeben wurden.

Danach studierte Paul Kisch ab 1901 Germanistik an der Deutschen Universität in Prag, 1902/03 auch an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Ab 1903 war er ein aktives Mitglied der Burschenschaft Saxonia, einer konservativen, schlagenden Studentenverbindung im (paritätischen) Burschenbunds-Convent und dem „Schlaraffenreyche“ in Prag. Dort nannte er sich „Ritter Schmisso der Bohemien“ oder „Junker Paul“. Durch diese Mitgliedschaften entstanden viele persönliche Beziehungen.

Paul Kisch 1938 (Public Domain)

1907 ging er nach Wien und gab dort gemeinsam mit Oskar Scheuer (1876–1941) die Zeitschrift „Die Hochschule“ heraus. 1913 promovierte er mit der Dissertation „Hebbel und die Tschechen“ zum Dr. phil. und trat im Sommer 1913 als Nachfolger seines Bruders Egon die Stelle des Lokalreporters der Zeitung „Bohemia – Unterhaltungsblätter für die gebildeten Stände“ an. Egon Erwin Kisch war fortan als Dramaturg des Künstlertheaters und Mitarbeiter des Berliner Tagblatts tätig. Im Gegensatz zu seinem kommunistisch aktiven Bruder Egon eher deutschnational eingestellt, wirkte er auch als politischer Journalist, Literaturhistoriker und Literaturkritiker.

Im November 1918 übersiedelte Paul Kisch als Redakteur der Neuen Freien Presse nach Wien, wo er sich bis Juni 1938 aufhielt. Danach ging er als tschechoslowakischer Staatsbürger nach Prag und heiratete im Januar 1939 seine ehemalige Sekretärin Karoline Apfelthaler. Zur gleichen Zeit unterhielt er aber auch eine Liebesbeziehung zur Jüdin Edith Langer, mit der er einen Sohn hatte.
Nach der Einführung der Arbeitspflicht für alle jüdischen Männer zwischen 15 und 60 Jahren war Kisch ‚Helfer‘ bei der Umsiedlung der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag (9. Juli 1942–2. Oktober 1942), im Anschluss daran arbeitete er dort noch bis zum 10. Februar 1943 weiter. Nach der Denunziation seiner heimlichen Liebesbeziehung mit der Jüdin Edith Langer ließ sich Karoline von ihm scheiden. Mit dem Transport Ez-St_66 (Nr. 262) wurden Paul Kisch und Edith Langer am 13. September 1943 aus Prag ins Ghetto Theresienstadt abtransportiert und am 12. Oktober 1944 aus Theresienstadt mit dem Transport Eq (Nr. 335) nach Auschwitz deportiert, wo sie gleich nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet wurden. Das Familienhaus ging in das Eigentum von Karoline Kisch über.  

Wie kam das Buch in die Universitätsbibliothek Leipzig und was geschieht nun mit ihm?

Das Raabe-Lexikon von Heinrich Spiero wurde 1956 durch die Bibliothek des Deutschen Literaturinstituts (wahrscheinlich über die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände) erworben, in den 2000er Jahren an die Bibliotheca Albertina abgegeben und dort als Raubgut erkannt. Im Katalog der Universitätsbibliothek Leipzig wird auf den unrechtmäßigen Besitz dieses Buches mit dem Vermerk „NS-Raubgut“ und der Provenienz „Kisch, Paul / Exlibris“ hingewiesen.

Das ist jedoch nur ein erster Schritt im Rahmen der Provenienzforschung. Danach beginnt die Suche nach eventuellen Erben, an die dieses Buch restituiert werden kann.

Dazu ist die Zusammenarbeit von Provenienzforscherinnen und -forschern innerhalb Deutschlands und darüber hinaus von großer Bedeutung. In unterschiedlichen Arbeitsgruppen, so als „AG Provenienzforschung in Bibliotheken“ am Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste Magdeburg sowie in der Kommission für Provenienzforschung und Provenienzerschließung beim Deutschen Bibliotheksverband e. V. arbeiten Bibliothekarinnen und Bibliothekare, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen, tauschen sich über ihre Forschungsergebnisse aus und versuchen zunehmend auch gemeinsam Kontakt zu Erben aufzunehmen, um faire und gerechte Lösungen für eine Restitution oder gütliche Einigung für die gefundenen Bücher zu erreichen. Auch die Sächsischen Provenienzforscherinnen und -forscher treffen sich regelmäßig, um ihre Forschungsergebnisse auszutauschen.

Im Fall des Buches aus dem Besitz von Paul Kisch wurde ein weiteres Werk in der Parlamentsbibliothek in Wien gefunden. Mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus in Wien werden wir uns nun an die vier ermittelten Erben wenden, um eine mögliche Restitution in die Wege zu leiten.

Noch ist viel zu tun auf dem Gebiet der Provenienzforschung in Museen, Bibliotheken und anderen Einrichtungen. Dabei stehen neben in der Zeit des Nationalsozialismus unrechtmäßig erworbenen Beständen auch solche aus Enteignungen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR sowie aus der Kolonialzeit im Mittelpunkt.


Literatur zu Paul Kisch:

Der andere Kisch. Der Literaturhistoriker und -kritiker Paul Kisch (1883–1944) von Václav Petrbok (PDF, 29.03.2021)

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