„Als Adler und Engel noch von Birken träumten“
Wir sind aufgeregt: es geht in die Schriftstellerschmiede. Und diese hat eine lange Tradition, die bereits 1955 begann. In diesem Gebäude lernen Studierende, wie man Gedichte, Prosa sowie Romane schreibt. Und das mit beachtlichem Erfolg. Viele Alumni seit der Neugründung 1995 und natürlich auch schon vorher, gehören heute zu den bekanntesten Autoren der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Entsprechend ehrfürchtig betreten wir das Gebäude und sind sofort bezaubert. Es ist eine wunderschöne Villa, die schon verschiedenen Zwecken diente.
Das Bemerkenswerte an dieser ganzen Bibliothek sind (…) die großen Vitrinen, die vor der Bibliothek stehen. Dort sind die Veröffentlichungen der Absolventen drin. Und da sieht man sehr deutlich wie erfolgreich diese Einrichtung ist, also von Juli Zeh über Clemens Meyer bis zu Saša Stanišić… das sind ja alles DLLer.
Gleich nach dem Betreten stehen wir im Vortragssaal, der ideal ist für Veranstaltungen, insbesondere natürlich Lesungen, und von dem die Tür zur Bibliothek abgeht. Zunächst begeben wir uns aber auf die imposante Treppe und besuchen Prof. Haslinger, den Direktor des Deutschen Literaturinstituts. Er ist sehr zufrieden mit der Bibliothek und der Entwicklung, die sie genommen hat. Angesprochen auf die berühmten Absolventinnen und Absolventen des Instituts, winkt er fast schon ab: „Da kommt noch mehr!“
Wir sind gespannt und freuen uns auf die Bibliothek. Bevor wir diese betreten, werfen wir schon einen kurzen Blick in die Vitrinen, die uns Frau Bauer ans Herz gelegt hat. Sie ist die stellvertretende Direktorin der UB Leipzig und zuständige Fachreferentin.
Sie hat uns auch auf die Besonderheit dieser kleinen Bibliothek aufmerksam gemacht: ihre Nutzerinnen und Nutzer werden zu Produzenten von Büchern, die wieder in die Bibliothek kommen und für die nächsten angehenden Schriftsteller zum Untersuchungsobjekt werden. Entsprechend enthält diese kleine Spezialsammlung zum größten Teil Belletristik und Werke zur Literaturtheorie. Dieser Bestand ist quasi das Arbeitsinstrument der Studierenden.
Die Öffnungszeiten sind längst nicht so komfortabel wie in den großen Bibliotheken der Universität Leipzig, aber es ist ja auch eine One Person Library, geführt von Frau Birgit Neumann. Sie steht hinter der Theke, wenn Studierende, Professoren und Gastdozenten kommen und schnell noch was nachlesen wollen, dringend ein Buch brauchen, oder überprüfen wollen, ob es diesen einen Plot schon mal in einem anderen Roman gegeben hat. Wenn sie nicht ausleiht, berät oder den Bestand pflegt, ist Frau Neumann in Sachen elektronische Zeitschriften tätig. Diese kann sie aber auch im DLL bearbeiten. Der UB entstehen somit noch nicht einmal zusätzliche Personalkosten. Sie pendelt zwischen der Bibliothek des DLL und der Albertina um die Ecke, wo sie im Team E-Medien arbeitet.
Aber heute führt sie uns durch die Bibliothek. Gleich am Eingang stehen die Werke zur Erzähltheorie und zur Schreibtheorie. Jeder Autor ist immer auch ein wenig Literaturwissenschaftler. Um selbst Texte zu verfassen, ist es wichtig zu wissen, wie sie gemacht sind. Auch über die eigenen Vorbilder sollte man genau Bescheid wissen, deshalb schließt sich auch die Sachgruppe „Deutsche Literatur“ unmittelbar an. Hier steht aber nur die neueste deutsche Literatur. Was jetzt so übersichtlich, aufgeräumt und gut strukturiert ist, war nicht immer so: Widrigkeiten mussten überwunden, Wassereinbrüche überstanden und viele Bücher bearbeitet werden, bevor die Bibliothek so aussah wie heute. Frau Bauer kann da viele Geschichten von aufgequollenen Böden und verklemmten Rollregalen berichten.
Im Anschluss an den Eingangsbereich finden wir den Zeitschriftenlesesaal, in dem ein Nutzer-PC der Bibliothek steht. Es ist nicht so wie in der Bibliotheca Albertina oder der Campus-Bibliothek, wo die Nutzerinnen und Nutzer viele Stunden, ganze Tage verbringen. Die Studierenden des DLL, und manchmal auch der Hochschule für Grafik und Buchkunst, schauen kurz herein und leihen sich die Bücher aus. Nur im Sommer bleiben manche länger, dann aber im Kellergeschoss, wohin uns Frau Neumann nun führt. Da ist es schön kühl und man wird nicht so abgelenkt von dem schönen Wetter. Nur wenige wissen, dass sich hinter der einen Tür eine Sauna mit angeschlossenem Partykeller befand. Zu DDR-Zeiten wurde dort gefeiert – und auch gelauscht. Nach der Wende wurden nämlich Abhörwanzen entdeckt, was aber kaum verwundert, wenn man weiß, dass das Haus als Gästehaus der Polizei fungierte. Leider war nicht herauszufinden, ob die Sauna noch funktionieren würde, da lassen wir nur unsere Phantasie spielen…
Selbige wird auch beim Überfliegen der Titel auf den Buchrücken angeregt. Da findet sich ein beeindruckender Rundumschlag der Weltliteratur: Klassiker und Neuheiten aus anderen Ländern und Kulturen in deutschen Übersetzungen füllen die Regale. Da steht Rushdie neben Tolkien und Irvine Welsh und es gibt auch ein Regal mit den Büchern von Murakami und Kenzaburo Ōe, also den fernöstlichen Literaturen. Natürlich kann nicht alles gekauft werden, was an interessanter Literatur veröffentlicht wird, es wird immer nur eine exemplarische Auswahl erworben. Hier unten steht auch die restliche deutsche Literatur, von der Moderne quasi rückwärts. Wehmütig und in Erinnerungen an die eigene Kindheit schwelgend, betrachten wir die DDR-Ausgaben von Winnetou und staunen über die alten Exemplare, die noch aus der Zeit stammen, in der das Deutsche Literaturinstitut den Namen „Johannes R. Becher“ trug. Zerlesen sind sie, aber voller Geheimnisse, womöglich hat hier Ronald Schernikau drin gestöbert, hat sich Rainer oder Sarah Kirsch der Lektüre von Hans Fallada gewidmet. Wer weiß das schon? Apropos: Es gibt ein Projekt am DLL, das sich der historischen Aufarbeitung dieses traditionsträchtigen Instituts widmet und verspricht, sehr spannend zu werden.
Aber auch der Blick in die Zukunft ist, wie Prof. Haslinger schon andeutet, sehr interessant. Das sieht man aber auch schon jetzt: in der „Tippgemeinschaft“. Dabei handelt es sich um die Anthologie von Werken der Studierenden des Instituts. Seit 2003 erscheint sie jährlich zur Buchmesse im März. Die Gestaltung erfolgt oftmals in Zusammenarbeit mit Studierenden der Hochschule für Grafik und Buchkunst, die sich gleich nebenan befindet. An allen Ecken hier im Viertel herrscht eine kreative Atmosphäre und die Bibliotheken der Universität sind mittendrin!
Angesprochen auf ihren Lieblingsplatz zögert Frau Neumann nicht lange und stellt sich zwischen die Regale: Dort, rundum von Büchern umgeben, fühlt sie sich am wohlsten. Was man noch besser machen könnte? Ein paar Möbel, eine Couch und Sessel wünscht sie sich, um die Atmosphäre noch einladender zu gestalten. Die Antwort auf die Frage nach ihren Lieblingsautoren verweigert sie allerdings: sind es zu viele, oder möchte sie niemanden bevorteilen? Es soll ihr Geheimnis bleiben. Apropos Geheimnis: Zum Schluss gibt es noch „Zettels Traum“ anzusehen. Was das ist? Schwer zu sagen: ein riesiger Band, auf den Seiten jeweils drei Spalten gedruckter Text, aber es gibt auch handschriftliche Notizen. Arno Schmidts Monumentalwerk ist damit wohl eines der bemerkenswertesten und rätselhaftesten Projekte der deutschen Literaturgeschichte – wie ein riesiges Skizzenbuch sieht er aus.
Dieser „Extremfall“ der Literatur bildet das Ende unseres Besuches. Wir umrunden zum Schluss noch ein Mal dieses wunderbare Haus und sinnen darüber nach, wie viele Anekdoten sich hier wohl zugetragen haben mögen. Durften Juli Zeh oder Clemens Meyer ihre Hunde ausnahmsweise mit in die Bibliothek nehmen? Sind einige von den heute berühmten Schriftstellern manchmal nach einer Besprechung ihrer Texte niedergeschlagen und entmutigt gewesen? Und was ist mit dem DLL selbst?
Wir haben alle unsere Interviewpartner gefragt, aber genau konnte nicht geklärt werden, ob das DLL schon mal im Mittelpunkt einer Erzählung oder eines Romans stand. Das wäre doch auch mal interessant… Mit diesen Gedanken geht es zurück in die quirlige Albertina. Den angehenden Schriftstellern lassen wir wieder ihre Ruhe und freuen uns auf weitere Werke in den großen Vitrinen und auf unserem Nachttisch.